Ein Artikel aus dem Hochschulmagazin inside out #61 (2022)

Vom Meister zum Master

Studieren ohne Abitur: Die Beispiele von vier Männern zeigen, dass der Umweg über den Beruf mehr Vor- als Nachteile hat.

Kampfjets warten und reparieren? Für Sicherheit von Menschen auf Baustellen sorgen? Kindern und Jugendlichen zu einer guten, gesunden Entwicklung verhelfen? Das sind ganz sicher alles spannende und wichtige Aufgaben, die man ein Berufsleben lang erfüllen könnte. Für Dennis Kiel, Werner Portugall, Christoph Strothe und Abel Gherezghiher war das aber nicht genug. Sie wollten mehr, wollten sich weiterentwickeln, Praxis mit Theorie unterfüttern.

Studieren, obwohl sie allesamt kein Abitur oder Fachabitur gemacht, sondern jeweils die Realschule nach der zehnten Klasse verlassen haben. Fürs Studium qualifiziert haben sie sich über Berufsausbildung und -praxis. Alle vier haben ganz unterschiedliche Geschichten, aber eines gemeinsam: die Entscheidung fürs Studium nie bereut.

Gut, bei Dennis Kiel ist es für eine solche Bilanz nach zwei Semestern im Studiengang Bauingenieurwesen noch etwas früh. Aber er ist sich seiner Sache sicher. Mit seinen 31 Jahren hat er schon reichlich Erfahrungen gesammelt. Kiel hatte sich für zwölf Jahre bei der Bundeswehr verpflichtet, dort eine Ausbildung zum Fluggerätemechaniker absolviert und noch den Industriemeister Metall draufgesattelt. Am Luftwaffenstützpunkt Nörvenich hat er sich um die berühmten Eurofighter gekümmert. Dass er dort wegwollte, hatte zweierlei Gründe: Persönliche, aber auch fachliche. „Ich wollte machen, was mir wirklich Spaß macht. Und ich habe mich immer schon sehr gerne mit Bauwerken beschäftigt.“

Porträt Dennis Kiel (Bild: Thilo Schmülgen / TH Köln)

  In Mathematik musste ich manches nachholen, was in der Oberstufe Unterrichtsstoff ist. Aber dabei helfen auch Kommiliton*innen und Lehrende.“

Dennis Kiel, 31 Jahre, Schulabschluss: Realschule
Erlernter Beruf: Fluggerätemechaniker, Weiterbildung zum Industriemeister Metall
Studiengang: Bachelor Bauingenieurwesen (2. Semester)
Sein Ziel: Machen, was wirklich Spaß macht, im Bereich Statik


Aber in dem Alter noch ein Studium anfangen? Und das ohne das Schulwissen aus der Oberstufe? Kiel informierte sich, unterhielt sich mit erfahrenen Leuten aus dem Bauingenieurwesen. Riskierte den Schritt. Dass er in Mathematik Lücken füllen musste, zeigte sich schnell. „Für die Integralrechnung musste ich mich halt mal ein Wochenende hinsetzen“, sagt Kiel. Aber grundsätzlich falle ihm das Lernen relativ leicht, sagt er, gerade wegen seiner praktischen Berufserfahrung: „Ich kann mir viele Dinge einfach besser vorstellen als diejenigen, die direkt von der Schule kommen.“

Werner Portugall sitzt daneben und nickt: „Ich wusste genau, wofür ich das lerne, was ich lerne.“ Der heute 40-Jährige hat im Januar seinen Master als Bauingenieur gemacht und war bei Studienbeginn noch ein paar Jahre älter als Kiel. „Als ich am ersten Tag in den Hörsaal kam, vorne stand und nach einem Platz suchte, fragte mich eine Studentin, ob ich der Professor sei!“ Er nahm es gelassen. Mit Mitte 30 brachte er nicht nur ein größeres Stück Lebenserfahrung, sondern als Zimmerermeister auch einschlägige Vorkenntnisse mit.

Porträt Werner Portugall (Bild: Thilo Schmülgen / TH Köln)

  An meinem ersten Tag im Hörsaal hat mich eine Studentin gefragt, ob ich der Professor sei.“

Werner Portugall, 40 Jahre, Schulabschluss Realschule
Erlernter Beruf: Zimmerermeister
Studiengang: Bauingenieurwesen (Masterabschluss Anfang 2022)
Sein Ziel: Mehr theoretischen Hintergrund für die praktische Arbeit haben


„Wenn man vorher schon einige Jahre im Job war, dann hat man gelernt, strukturiert zu arbeiten und sich aufs Wesentliche zu konzentrieren“, sagt Portugall, für den strukturiertes Arbeiten elementar war: Während des gesamten Studiums arbeitete er in Vollzeit weiter, prüfte große Kölner Baustellen im Auftrag einer Berufsgenossenschaft nach den Richtlinien des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, etwa die Standsicherheit von Gerüsten. Das tut er immer noch, aber jetzt mit anderen Augen. „Das Studium hat mich sehr weitergebracht, fachlich und persönlich. Ich habe einen anderen Blick auf die Dinge, der nicht nur praktisch ausgelegt ist, sondern mit viel mehr theoretischem Hintergrund.“ Einen Nachteil aufgrund der fehlenden Oberstufenbildung hat auch er allenfalls in Mathematik erlebt.

Prof. Dr. Wolfram Kuhlmann, Leiter des Masterstudiengangs „Bauingenieurwesen, Konstruktiver Ingenieurbau" bestätigt genau das. „Alle, von denen ich weiß, dass sie ohne Abitur das Studium begonnen haben, berichteten von Anfangsproblemen in Mathematik.“ Von sehr vielen kennt er die schulische Vorbildung allerdings nicht. „Ich denke, dass viele darüber nicht sprechen, weil sie das ein bisschen als Makel sehen“, sagt Kuhlmann. Ein Makel, der keiner ist. Offenbar sogar eher ein indirekter Vorteil, denn die als Qualifikation notwendige einschlägige Berufserfahrung hilft auch nach Einschätzung des Dozenten beim Lernen. Und er beobachtet, dass Studierende mit diesem Hintergrund oft besonders motiviert und zielstrebig sind, ähnlich wie diejenigen, die ein Duales Studium absolvieren.

Das Bauingenieurwesen und die Soziale Arbeit sind zwei Studiengänge, die in ihren Inhalten kaum miteinander zu vergleichen sind. Und doch berichten Abel Gherezghiher und Christoph Strothe, 27 und 33 Jahre alt und ebenfalls ohne Abitur ins Studium gestartet, von ganz ähnlichen Erfahrungen wie Kiel und Portugall.

Porträt Abel Gherezghiher Abel Gherezghiher (Bild: Thilo Schmülgen / TH Köln)

  Es gab bisher keinen Moment, in dem ich wegen meines Schulabschlusses an meine Grenzen gekommen wäre. Das Studium ist anspruchsvoll, aber machbar.“

Abel Gherezghiher, 27 Jahre, Schulabschluss Realschule
Erlernter Beruf: Erzieher
Studiengang: Bachelor Soziale Arbeit (4. Semester)
Sein Ziel: Weiter mit Kindern und Jugendlichen arbeiten


Gherezghiher hat nach seiner Erzieherausbildung ein Jahr in einer Kita und danach drei Jahre in einer Tagesgruppe der Kinder- und Jugendhilfe gearbeitet. Bis zu dem Tag, als er mit einem Kollegen im Biergarten saß und der ihn fragte, ob er nicht noch studieren wolle. Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los, immer begleitet von der Frage: „Schaffe ich das?“  Zugleich hatte er aber im Alltag zunehmend festgestellt, dass ihm „Fachwissen fehlt“. Also doch noch die Entscheidung fürs Studium mit dem schlichten Ziel, die eigene Qualifikation zu verbessern: „Geld oder eine Leitungsfunktion sind mir nicht so wichtig, aber ich will mich fachlich weiterentwickeln.“ Und die Sorgen, ob er das schaffen könne, seien längst verschwunden. „Das Studium ist anspruchsvoll, aber machbar.“ Und das trotz des Nebenjobs als Schulbegleiter für einen Jugendlichen mit Behinderung, der es ihm ermöglicht, den Lebensstandard gegenüber der Zeit der Berufstätigkeit einigermaßen zu halten.

Christoph Strothe, ebenfalls im vierten Semester Soziale Arbeit, hat vor seiner Ausbildung zum Erzieher sogar noch eine zum Industriemechaniker absolviert und zudem jahrelang auf einem Bauernhof gearbeitet. Arbeiten und Lernen, Lernen und Arbeiten, und das in ganz verschiedenen Bereichen, scheint für ihn ganz normal. Dass er noch studieren wollte, war ihm schon während der Erzieherausbildung klar. Sein großer Traum ist es, eine spezielle Form tiergestützter Psychotherapie für Kinder und Jugendliche anzubieten – nicht mit Delfinen, Lamas oder Hunden, sondern mit Hoftieren. Mit Rindern zum Beispiel und ganz besonders Schweinen, deren beruhigende Wirkung er selbst oft genug erlebt und genossen hat. „In Deutschland gibt es das bisher kaum, auch weil die behördlichen Auflagen enorm hoch sind“, berichtet Strothe.

Porträt Christoph Strothe (Bild: Thilo Schmülgen / TH Köln)

  Ich bin durch die Ausbildung schon tiefer im Thema und habe mehr Selbstvertrauen als andere.“

Christoph Strothe, 33 Jahre, Schulabschluss: Realschule
Erlernte Berufe: Industriemechaniker, Erzieher
Studiengang: Bachelor Soziale Arbeit (4. Semester)
Sein Ziel: Tiergestützte Therapie für Kinder und Jugendliche mit Bauernhoftieren, vor allem Schweinen


Vielleicht ändert sich das ja mal. Wie so manches im Leben von Christoph Strothe, Abel Gherezghiher, Werner Portugall und Dennis Kiel. Portugall, der Zimmerermeister, der vor gut sechs Jahren im Hörsaal gefragt wurde, ob er der Professor sei, hat jetzt seinen Master. Und hat kürzlich vertretungsweise eine Vorlesung über Baumechanik an unserer Hochschule gehalten. In genau dieser Vorlesung saß unter anderem ein junger Mann, der früher an Eurofightern der Bundeswehr geschraubt hat, sich aber eigentlich viel mehr für Bauwerke interessiert

Wer kein Abitur oder Fachabitur hat, kann trotzdem studieren. Voraussetzung ist eine dreijährige Berufsausbildung, an die sich entweder eine mindestens dreijährige Berufserfahrung im erlernten Beruf oder eine Aufstiegsfortbildung anschließt, zum Beispiel zum Industriemeister. Wenn die Berufsausbildung nicht dem angestrebten Studiengang entspricht, muss noch eine Zugangsprüfung abgelegt werden. Die Zentrale Studienberatung unserer Hochschule berät zum Thema Studieren ohne Abitur.

Dezember 2022

Ein Artikel aus dem Hochschulmagazin inside out #61 (2022)


M
M