Mit der Hand sehen
Jakob Kilian, Masterabsolvent der Köln International School of Design, hat eine handschuhförmige Prothese entwickelt, die es Menschen mit Sehverlust ermöglicht, räumlich zu sehen.
Getestet hat er den Handschuh „Unfolding Space“ im Rahmen einer Studie, bei der sich ein Lerneffekt zeigte. Darüber hinaus schrieben die Probandinnen und Probanden der Nutzung eine positive Bewertung zu. Die Ergebnisse veröffentlichte er jüngst in einem wissenschaftlichen Paper.
Kilian entwarf den ersten Prototyp 2018 in seiner Bachelorarbeit und entwickelte die Prothese danach stetig weiter. Bei dem Gerät handelt es sich um einen mit Vibrationsaktoren ausgestatteten Spezialhandschuh, der das Bild einer 3D-Kamera als Vibrationsmuster auf den Handrücken projiziert. Der Ort der Vibration stellt die relative Lage eines Objektes im Raum dar, die Stärke gibt die Entfernung wieder. So wird den Nutzenden ermöglicht, die räumliche Beschaffenheit der Umgebung haptisch zu erkunden.
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„Basis ist das Prinzip der sogenannten sensorischen Substitution. Vereinfacht gesagt: unser Gehirn ist in der Lage, Sinnesreize, die sonst aufgrund von Beeinträchtigungen einer Sinnesmodalität nicht wahrgenommen werden können, durch eine andere sensorische Modalität aufzunehmen beziehungsweise zu ersetzen“, erklärt Kilian. Geräte, die diese Übersetzung übernehmen, nennt man „Sensory Substitution Devices“ (SSD). Den Handschuh erforschte er in Zusammenarbeit mit dem ZEISS Vision Science Lab des Universitätsklinikums Tübingen (Institut für Augenheilkunde) in einer Studie mit blinden und sehenden Menschen.
Durch den Parcours
Über vier Sitzungen übten die 14 Probandinnen und Probanden zuerst das Tragen des Handschuhs und absolvierten anschließend mehrmals einen Hindernisparcours. Dabei wurden die benötigte Zeit und die Anzahl der Kollisionen mit den Hindernissen gemessen. Zum Vergleich gab es Durchgänge mit dem „Weißen Langstock“, dem wohl bekanntesten Hilfsmittel blinder Menschen. Nur die sehende Kontrollgruppe trainierte zusätzlich den Umgang mit dem Stock. In jeder der vier Sitzungen wurde der Parcours sieben Mal mit den jeweiligen Geräten durchschritten. Um zu vermeiden, dass die Personen sich den Standpunkt der Hindernisse merken, wurden diese vor jedem Durchgang nach einem kontrollierten Verfahren umgestellt.
„Das Konzept funktioniert. Alle haben es ins Ziel geschafft. Die Lernkurve war sehr steil. Dadurch konnte gezeigt werden, dass der Umgang mit dem Handschuh niedrige Einstiegshürden hat und nahezu intuitiv erlernbar ist“, sagt Kilian. Die sechs Probandinnen und Probanden mit verbundenen Augen der sehenden Gruppe, benötigten durchschnittlich 61 Sekunden mit dem Handschuh für einen Durchlauf und 37 Sekunden mit dem weißen Langstock. Die blinden Menschen waren grundsätzlich schneller. Die acht Probandinnen und Probanden brauchten im Durchschnitt 30 Sekunden mit dem Handschuh und 18 Sekunden mit dem Stock. „Das Gerät erfüllt die Anforderungen, um von der Zielgruppe akzeptiert zu werden. Dies spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass die Teilnehmenden den Handschuh als benutzerfreundlich einstuften.“ Bis zur Marktreife sei es doch noch ein weiter Weg, so Kilian.
Zum Projekt
Für die Entwicklung und Herstellung des Prototyps erhielt das Projekt Fördermittel aus dem Programm Kickstart@TH-Köln 2021. Kilian wurde 2018 mit dem Kölner Designpreis ausgezeichnet. Seine Publikation zur Studie sowie Bauanleitungen und Code für die Prothese stellt er frei zur Verfügung.
Juni 2022