Die Neue Rechte in der Sozialen Arbeit in NRW
Extrem rechte Positionen gewinnen in Deutschland seit einigen Jahren an Bedeutung. Wie und in welchem Umfang die Soziale Arbeit davon betroffen ist, untersucht die Online-Fachtagung „Rechtsextremismus, Neue und extreme Rechte in den Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit“ am Mittwoch, 16.9.20. Ein Interview mit der Organisatorin Prof. Dr. Birgit Jagusch.
Online-Fachtagung
„Rechtsextremismus, Neue und extreme Rechte in den Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit“
16. September 2020, 10.00 Uhr bis 16.30 Uhr
Frau Prof. Jagusch, Sie haben zusammen mit Dr. Christoph Gille von der Hochschule Koblenz die Studie „Die Neue Rechte in der Sozialen Arbeit in NRW“ durchgeführt. Was sind Ihre Ergebnisse?
Jagusch: Unsere Ausgangsthese lautete: Es gibt Versuche der Landnahme durch neurechte Akteur_innen; also Bestrebungen, bestehende Angebote zu kapern oder anzugreifen oder selber Angebote zu implementieren. Diese These wurde durch die Untersuchung gestützt. Es kommt im Land zu verbalen oder körperlichen Angriffen gegen Menschen und Institutionen, die in Bereichen tätig sind, die der Neuen Rechte als Angriffsfläche dienen: Migration, Flucht, Gender, Queer-Themen. Oder gegen jene, die sich explizit positionieren gegen Rassismus oder die Neue Rechte.
Was wir aber auch sehen, ist der Versuch der Neuen Rechten, in bestimmten Bereichen der Sozialen Arbeit Fuß zu fassen, etwa im Kontext von Jugendzentren, Jugendfreizeitaktivitäten oder der Arbeit für Menschen in prekären Lebenslagen. Die Aktivitäten sind zumeist eher Symbolpolitik. Beispielsweise werden vor Weihnachten Plätzchen an wohnungslose Menschen verteilt, um zu zeigen: Wir kümmern uns. Damit gemeint sind aber nur als deutsch gelesene Obdachlose. So werden dann Exklusionen und rassistische Stereotype ausgelebt. Aber es gibt auch Versuche der politischen Einflussnahme, etwa über die Jugendhilfeausschüsse oder durch Demonstrationen gegen als links wahrgenommene Jugendzentren.
Diese Ergebnisse können uns nicht erstaunen. Denn wenn wir davon ausgehen, dass Rechtsextremismus ein Problem der Mitte der Gesellschaft ist, dann finden wir diesen auch in der Mitte der Sozialen Arbeit. Zumal viele unserer Handlungsfelder wie Armut, prekäre Lebensverhältnisse oder Wohnungslosigkeit Themen sind, mit denen sich die Neue Rechte beschäftigt.
Wie erfolgreich sind die Versuche aktuell?
Jagusch: Glücklicherweise nicht so erfolgreich. Uns ist noch kein Angebot bekannt, das über längere Zeit erfolgreich läuft und auch kein Fall, im dem bestehende Angebote der Kinder- und Jugendhilfe aufgrund solcher Angriffe geschlossen wurden. Aber es herrscht innerhalb der Szene eine Verunsicherung und die Akteur_innen haben Angst, dass ihre Arbeit nicht mehr gefördert wird, wenn es etwa eine Diskursverschiebung nach rechts gibt. Und deshalb müssen wir wachsam bleiben.
Konnten Sie Gegenstrategien identifizieren?
Jagusch: Den Expert_innen, mit denen wir im Rahmen der Studie gesprochen hatten, war es sehr wichtig, nicht nur über Angriffsflächen, sondern auch über Gegenstrategien zu sprechen und deutlich zu machen: Wir lassen uns das nicht gefallen, wir sind nicht ohnmächtig und wir handeln.
Es gibt drei wichtige Strategien: Als Erstes müssen Informationen gewonnen werden, denn in der Regel stimmt zum Beispiel das alte Bild vom springerstiefeltragenden Nazi einfach nicht mehr. Wir wissen also manchmal nicht, wer vor uns steht und wer gerade einen Flyer zum Liederabend oder zum Wanderausflug verteilt. Da gibt es in NRW bereits sehr gute Anlaufstellen, bei denen eine flächendeckende Information möglich ist, wie etwa die Mobilen Beratungsstellen gegen Rechtsextremismus (MBR).
Zudem ist es wichtig, Bündnisse zu schaffen. Allianzen und Solidarität sind wichtige Gegenstrategien. Wird ein Jugendverband zum Ziel rechter Polemik, ist es notwendig, dass sich andere Jugendverbände hinter den betroffenen Verband stellen.
Das dritte ist, Strukturen der Diskriminierungssensibilität und Solidarität aufzubauen und nicht nur über kleine Projektförderung tätig zu werden. Da wo eine kommunale Struktur von Akteur_innen der Sozialen Arbeit vorhanden ist, die sich ihrer gesellschaftspolitischen Mandate bewusst sind, haben es neurechte Akteur_innen definitiv schwerer.
Menschen mit rechtsextremen Einstellungen können auch als Klientinnen und Klienten der Sozialen Arbeit auftreten. Wie sind da die Handlungsstrategien?
Jagusch: Das ist im Einzelfall sehr schwierig. Wenn ich überhaupt bemerke, dass jemand vor mir sitzt, der ideologisch im rechten Spektrum zu verordnen ist, stellt sich die Frage: Berate ich beispielsweise weiter oder kann ich das unter diesen Umständen nicht? Dazu gibt es keine eindeutige Handlungsempfehlung. Eine sinnvolle Strategie kann sein, die Position klar zurückzuweisen, aber den Hilfebedarf nicht zu ignorieren. Denn zu Helfen ist eine der Aufgaben der Sozialen Arbeit. Es gibt auch andere Beispiele, etwa in der offenen Jugendarbeit. Wenn ein Jugendzentrum von rechten Jugendlichen gekapert wird, besteht durchaus die Möglichkeit zu sagen: Unser Jugendzentrum steht für Demokratie und Menschenwürde und gegen Rassismus und da habt ihr jetzt erstmal keinen Platz, solange ihr so agiert.
Haben Sie auch eine Strategie für Menschen, die im Familien- oder Bekanntenkreis konfrontiert sind?
Jagusch: Vermutlich gibt niemanden, der oder die noch nie mit Personen zu tun hatte, die sich plötzlich im Alltag rassistisch oder neurechts geäußert haben. Da macht uns dann häufig der Überraschungseffekt sprachlos. Die Empirie zeigt, dass den Menschen oft erst im Nachhinein einfällt, was sie hätten antworten können. Daher ist es wichtig, diese Handlungsmuster im Alltag einzuüben – das versuchen wir an der Fakultät bereits im Rahmen von Lehrveranstaltungen exemplarisch umzusetzen. Es gibt auch sehr gute Trainingskonzepte oder onlinebasierte Argumentationstrainings, wie etwa der Klassiker „Argumentationstrainings gegen Stammtischparolen“ gegen solche Aussagen. Wichtig ist zu überlegen, ob man sich gegen solche Aussagen stellen muss oder nicht? Ich würde in der Regel dazu tendieren, etwas zu sagen. Auch wenn ich weiß: Danach ist die Stimmung auf der Familienfeier nicht mehr gut. Mir ist es wichtig, mich zu positionieren und Grenzen aufzuzeigen.
Prof. Dr. Birgit Jagusch (TH Köln), Dr. Christoph Gille (Hochschule Koblenz) |
August 2020