Science-Fiction trifft Rechtsprechung: Virtual Reality vor Gericht
In der Fernsehserie Star Trek entstehen auf dem Holodeck des Raumschiffs Enterprise durch Projektion virtuelle Welten, in die Crewmitglieder eintauchen können. Nur eine fiktive Spielerei? Von wegen: Beim Landeskriminalamt (LKA) Bayern werden mithilfe von Virtual Reality (VR) Tatorte auf einem Holodeck dreidimensional nachgebildet und begangen.
Das Potenzial der Technologie sieht auch Prof. Dr. Simon Johannes Heetkamp vom Institut für Versicherungswesen (ivwKoeln). Im Interview erklärt er, wie sie genutzt wird, welche Vorteile und Herausforderungen es gibt und wie das Thema in seine Lehre einfließt.
Virtual Reality im juristischen Bereich – wie kann man sich das vorstellen?
Ein Holodeck, wie das LKA Bayern es seit vergangenem Jahr nutzt, ist die umfassendste Art der VR-Anwendung: Man taucht nicht allein in die virtuelle Welt ein, sondern mehrere Leute nehmen gleichzeitig dieselbe Szenerie räumlich wahr. Das ist ein großer Vorteil bei staatsanwaltlichen oder polizeilichen Ermittlungen, da man dasselbe sieht und sich direkt dazu austauschen kann. Aber schon vor dem Holodeck wurde VR im Strafrecht genutzt. Konkret gab es 2016 einen Fall vor dem Landgericht in Detmold. Dem ehemaligen KZ-Aufseher Reinhold Hanning wurde Beihilfe zum Mord in 170.000 Fällen vorgeworfen. Er behauptete, er habe nur Wachdienst geleistet und habe nicht sehen können, was im Lager vorgefallen ist. Das LKA Bayern hat daraufhin auf Grundlage von Fotos und Bauplänen sowie mithilfe eines Laserscanners ein VR-Modell des Lagers angefertigt. In diesem Modell konnten die Ermittler*innen sich virtuell auf einen Wachturm stellen und so nachweisen, dass Hanning eine Sichtlinie in das Lager und zur Rampe hatte, wo die Selektion der Menschen erfolgt ist.
Kamen auch schon VR-Brillen zum Einsatz?
Eine VR-Brille wurde im Gerichtssaal zum ersten Mal bei den Verhandlungen der Polizistenmorde von Kusel genutzt. Nach der Tat hatte das LKA mit einem Laserscanner den Tatort aufgenommen. In dieses VR-Modell wurden unter anderem der Standort der Fahrzeuge und die Lage der Patronenhülsen und der Leichen übertragen. So konnten die Ermittler*innen den Tathergang nachvollziehen und herausfinden, was geschehen ist oder – genauso wichtig – was nicht geschehen sein kann. Während des Verfahrens konnte der Richter sich mithilfe einer VR-Brille und eines Steuerungsgeräts über die Szenerie bewegen.
Könnte man den Tatort nicht persönlich besichtigen?
Gerade im strafrechtlichen Kontext sind Ortsbegehungen aufwendig. Wenn der oder die Angeklagte dabei ist, muss man die Gegend großflächig absperren – einerseits um das Fluchtrisiko zu reduzieren, aber auch, damit beispielsweise Angehörige der Opfer nicht auf die Beschuldigten einwirken können. Außerdem kann der Tatort sich mit der Zeit verändern. Wenn die Tat im Sommer begangen wurde, die Tatortbegehung aber im Dezember stattfindet, dann ist die Vegetation eine ganz andere. Vielleicht liegt Schnee oder es ist dunkler. Bei VR-Modellen hingegen können Vegetation und Lichtverhältnisse so aufgenommen werden, wie sie zum Tatzeitpunkt tatsächlich waren.
Auch Fotos oder Videos können einen Tatort so aufnehmen, wie er zum Tatzeitpunkt aussieht. Welche Vorteile hat VR?
Studien zeigen, dass Menschen Sachverhalte besser verstehen, wenn sie in Virtual Reality dargestellt werden. Ein Beispiel: Einer Gruppe von Jury-Mitgliedern in den USA wurden Fotos von einem gestellten Unfall gezeigt, während eine Vergleichsgruppe sich die Situation in einer VR-Umgebung angesehen hat. Die zweite Gruppe hat das Geschehen direkt verstanden und konnte sich besser an Details erinnern. Dementsprechend kam sie schneller zu einer einheitlichen rechtlichen Beurteilung des Unfalls als die andere Gruppe. Natürlich haben wir in Deutschland keine Jurys, aber eine solche Vergleichsstudie wäre auch bei uns interessant.
Gibt es Herausforderungen bei der Nutzung von VR vor Gericht?
Es könnte sein, dass Richter*innen, die den Tathergang oder Tatort in VR gesehen haben, emotionalisiert werden und härter strafen. Zwar lassen auch Fotos visuelle Eindrücke entstehen; man muss sich als Richter*in beispielsweise Bilder von Leichen oder Nahaufnahmen von Wunden anschauen. Es wäre interessant zu klären, ob man persönlich noch betroffener von einer Tat ist, wenn man den Zustand eines Opfers über VR erfasst hat.
Wie fließt die Nutzung von VR im Gerichtskontext in Ihre Lehre ein?
Zusammen mit Prof. Dr. Arnulph Fuhrmann vom Institut für Medien- und Phototechnik habe ich zwei Projekte durchgeführt. Zuerst haben Studierende einen virtuellen Gerichtssaal programmiert, in dem man sich frei bewegen kann. Der kann beispielsweise zum Einsatz kommen, wenn man zeigen möchte, wo bei einem Zivilprozess die Kläger*innen oder die Beklagten sitzen und wie der Prozess abläuft. In einem zweiten Projekt haben wir in diesen virtuellen Gerichtssaal einen Zeugen gesetzt: einen Avatar, der mit ChatGPT gekoppelt ist. Studierende können ihn vernehmen und lernen, wie schwer es sein kann, alle Informationen aus einem Zeugen heraus zu kitzeln, die man für ein Urteil braucht.
Januar 2024