Motion Capturing Labor: Mehr Komfort in der virtuellen Welt
Um menschliche Bewegungen am Computer in 3D zu generieren, werden in Animationsfilmen und Computerspielen Motion Capturing-Techniken eingesetzt. Am Institut für Medien- und Phototechnik haben Ingenieurinnen und Ingenieure eine Möglichkeit gefunden, die Bewegungserfassung zu vereinfachen. Für den User bedeutet das mehr Tragekomfort.
Ausgezeichnet!
Bei der "IEEE Virtual Reality conference 2016 " haben Prof. Fuhrmann und sein Team für das Poster zum Thema den Best Poster award gewonnen.
Achtung, hier geht’s abwärts. Von der Dachkante bis zum Straßenasphalt drohen 48,5 Meter freier Fall. Das nächste Hochhaus ist nicht weit. Ein schmaler Steg verbindet die beiden Dächer miteinander, kaum breiter als ein Paar Füße. Darunter lauert der Abgrund. Preisfrage: „Schaffen Sie es, drei Mal über den Steg zu gehen?“ Um Ihre Selbsteinschätzung auf die Probe zu stellen müssen Sie sich nicht unbedingt auf ein reales Hochhausdach stellen. Die virtuelle Realität eröffnet immer mehr Möglichkeiten für kleine Adrenalinkicks.
Im Motion Capturing (MoCap) Studio des Instituts für Medien- und Phototechnik bekommt man einen sehr plastischen Eindruck, wie real sich eine virtuell erzeugte Höhe anfühlt, wenn man sie durch ein modernes Head-Mounted-Display betrachtet. Da diese Displays die reale Welt komplett abschirmen und nur die virtuelle zeigen, vermindert sich die Wahrnehmung der eigenen Person in der realen Welt, während sich die Identifikation mit dem Avatar in der virtuellen Welt vergrößert – auch Immersion genannt. Plötzlich ist die Überwindung, den schmalen Steg entlangzugehen, nahezu genauso groß, wie in der Realität. „Einige unserer Probanden, die nach eigenen Angaben Probleme mit großen Höhen haben, sind beim Versuch fast gescheitert“, sagt Julia Büser. „Andere, die sich vorab nicht höhenängstlich eingeschätzt hatten, mussten anschließend ihre Meinung korrigieren.“
Vergleichende Untersuchung: Personen mit und ohne Höhenangst
Die Studentin des Bachelors Medientechnologie hat für ihre Thesis die virtuelle Hochhauswelt kreiert, mit Unterstützung von Kollegen der Uni Köln und Uni Würzburg. Außerdem hat sie eine Studie verfasst. 27 Probandinnen und Probanden – gut die Hälfte mit Höhenangst – mussten drei Mal die fiktive Schlucht überqueren. Um die Suggestion zu verstärken, wurde im Studio eine reale Planke aufgebaut, auf der die Testpersonen steigen mussten. Vor und nach der Prüfung führte Büser mehrere Befragungen durch. Darunter einen Fragebogen zur Einschätzung der eigenen Höhenangst sowie den Task Load Index, ein von der NASA entwickelter Fragebogen zur Arbeitsbeanspruchung. Darin wird zum Beispiel abfragt, wie gestresst man sich während des Tests gefühlt hat und wie anstrengend die Aufgabe war. Tatsächlich benötigten Versuchspersonen umso länger für die Überquerung, je größer ihre Höhenangst war. „Das Gefühl der realen Planke hat bei allen Testpersonen den Eindruck real erlebter Höhe unterstützt“, sagt Prof. Dr. Arnulph Fuhrmann, der Julia Büsers Arbeit betreut hat.
Vereinfachte Technik ohne Einbußen in der Darstellung
Das man mittlerweile große Höhen in der virtuellen Realität überzeugend suggerieren kann, ist nicht neu. Vorrangig geht es dem Team um Arnulph Fuhrmann in dieser Arbeit um die Simplifizierung der Technik bei gleichzeitig hoher Immersion. Die Darstellung des Avatars soll die eignen Bewegungen exakt nachvollziehen. Das MoCap Studio am Campus Deutz ist im elften Stock. Hoch genug für einen großartigen Blick über die Kölner Skyline. Doch die Fenster sind zugehängt. Der schwarze Hintergrund ist nötig, damit die weißen kleinen Bälle, die Marker, die die Testperson am Körper trägt, ohne störendes Sonnenlicht von den Dutzend Deckenkameras erfasst werden können. Durch die Bewegung der Marker in den einzelnen Kamerabildern kann mit Hilfe der geometrischen Messtechnik Triangulation die Position der Marker in 3D berechnet werden.
Für die Darstellung räumlicher Bewegung, wie den schwindelerregenden Gang über die Hochhausplanke, hat sich ein enger Ganzkörperanzug aus Lycra etabliert. An ihm sind die Marker an 36 definierten Körperstellen angebracht. Für jeden Marker muss dessen Position vom System berechnet werden. „Eine Reduzierung der Marker auf dem Anzug brachte bislang Probleme in der visuellen Darstellung, da nicht alle Körperteile jederzeit korrekt erfasst werden. Das führt zum Beispiel dazu, dass die Position des realen Fußes nicht mit dem virtuellen übereinstimmt und damit die Illusion, der virtuelle Körper sei der eigene, zusammenbricht“, erklärt Fuhrmann. „Bereits kleinste Abweichungen in den Bewegungen hatten großen Einfluss auf die Qualität der Darstellung. Unser Ziel war es, die kinematischen Berechnung zu vereinfachen, ohne dabei Einbußen in der Darstellung zu haben.” Der Anzug wäre dann kein „Muss” mehr und der User gewinnt mehr Bewegungskomfort.
In Büsers Studie trugen die Hälfte der Testpersonen neben der Virtual-Reality-Brille den Ganzkörperanzug, den anderen wurden nur an Händen und Füßen Marker befestigt – insgesamt zehn Stück inklusive der Marker auf der Brille.
Auf beide Testgruppen wurden Personen mit Höhenangst verteilt. In den Untersuchungen zeigte sich kein Unterschied im immersiven Verhalten. Alle empfanden den Körper des Avatars als den eigenen. „Die Versuchspersonen mit Höhenangst, die einen Anzug tragen mussten, fanden den Test sogar noch belastender“, erzählt Julia Büser, „weil der Anzug sehr eng sitzt und sie eine deutlich aufwändigere Vorbereitungszeit durchgehen mussten.“
Möglicher Einsatz in der Verhaltenstherapie
Das einzige Manko bei der 10-Marker-Lösung ist noch, dass der Körperrumpf nur sehr schwer wiedergegeben werden kann, denn hier fehlen die nötigen Informationen zur Berechnung. Eine Probandin wollte aus Angst lieber über die Planke krabbeln – und schon war die Illusion zerstört. Für die Verhaltenstherapie ist der Einsatz dieser virtuellen Applikation dennoch eine interessante Behandlungsmethode. „Man kann die Patienten mit ihren Ängsten konfrontieren und dabei schrittweise den Stimulus steigern“, sagt Fuhrmann. Dazu plant das Team gerade eine Folgestudie mit Medizinern der Uni Köln.
Text: Monika Probst
April 2016