Modell zur Erhaltung und Präsentation von zeitgenössischen Kunstwerken
Wie können historische Kunstwerke authentisch bewahrt werden? Diese Frage steht im Mittelpunkt der Arbeit von RestauratorInnen – und verlangt ihnen wichtige Entscheidungen über die richtige Vorgehensweise ab. Um diese Abwägung auch für zeitgenössische Kunst zu erleichtern, hat ein Forschungsteam ein Entscheidungsfindungsmodell weiterentwickelt und anhand von zwei Fallstudien überprüft.
„Zeitgenössische Kunst kann aktionsorientiert, variabel und auf Veränderung ausgelegt sein. Häufig sind mediale und interaktive Komponenten enthalten, die entweder technisch veralten oder durch häufige Nutzung verschleißen können. Das erschwert die Entscheidung, wie Kunstwerke für die Zukunft authentisch bewahrt werden sollten. Aus diesem Grund benötigen wir ein Entscheidungsfindungsmodell, das auch für diese Kunstwerke der Gegenwart funktioniert“, sagt Prof. Dr. Gunnar Heydenreich vom Institut für Restaurierungs- und Konservierungswissenschaft (CICS).
Ausgangspunkt des Forschungsprojekts war das 1999 veröffentlichte Decision-Making Model der niederländischen Foundation for the Conservation of Modern Art. Dieses wurde von einer internationalen und multidisziplinären Arbeitsgruppe am CICS überarbeitet und erweitert. Es besteht aus einem Flussdiagramm mit einer Beschreibung der einzelnen Schritte und vertiefenden Checklisten und Fragen, unter anderem zu Eigenschaften von zeitgenössischen Kunstwerken und Präsentationsformen, sowie aus einem Glossar zur aktuellen Fachterminologie.
Wesentliche zu berücksichtigende Aspekte sind in Form von Fragen im Modell verankert, die jetzt im Hinblick auf zwei Kunstwerke weiterbearbeitet wurden. Ziel der Fallstudien war es, das bisher auf theoretischen Erkenntnissen und abgeschlossenen Restaurierungen basierende Modell auf seine praktische Anwendbarkeit für die Erhaltung und Präsentation zeitgenössischer Kunst hin zu überprüfen.
Praxistest: Installation „Thermoelektronischer Kaugummi“ und Wandgemälde „Canopus“
Das Decision-Making Model wurde in Kooperation mit dem Museum Ostwall im „Dortmunder U –Zentrum für Kunst und Kreativität“ auf das interaktive, elektroakustische Werk „Thermoelektronischer Kaugummi (T.E.K.)“ von Wolf Vostell aus dem Jahre 1971 angewandt. Die begehbare Rauminstallation zeichnet sich durch einen mit zahlreichen Löffeln und Gabeln besetzten Boden, eingefasst von Stacheldrahtzäunen, aus. Besucherinnen und Besucher konnten mit einem Koffer über den Besteck-Teppich gehen, während sie dabei Kaugummi kauten. Die eigenen Kaugeräusche wurden mit einem im Gesicht angebrachten Mikrofon erfasst und während der Begehung zusammen mit weiteren verstörenden Geräuschen aus dem Koffer lautstark abgespielt. Das Werk thematisiert das Leid bei Flucht, Deportation und in Gefangenenlagern.
Die Fallstudie beinhaltete sowohl Fragen zur ursprünglichen technischen Funktionsweise als auch zu seiner interaktiven Nutzung und Wirkung. „Vor 50 Jahren gab es, anders als heute, keine zahlreichen Handyaufnahmen. Uns fehlten Informationen über die akustischen Signale, die Dimension der Installation und die Anzahl der Personen, die gleichzeitig das interaktive Werk nutzten“, sagt Julia Giebeler, wissenschaftliche Mitarbeitern im Projekt. „In Abstimmung mit dem Sohn und Nachlassverwalter des Künstlers haben wir uns unter anderem dazu entschieden, die Koffer originalgetreu nachzubauen“, sagt Giebeler. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erstellten anhand des Decision-Making Models ein Erhaltungs- und Präsentationskonzept für die Installation, das nun umgesetzt wird.
Die zweite Fallstudie widmete sich dem Wandgemälde „Canopus“ des Künstlers Viktor Vasarely. Er schuf die großformatige Wandarbeit 1965 für das Foyer der Aula der Pädagogischen Hochschule in Essen-Rüttenscheid. Das Werk wurde nicht nur beschriftet und beschmiert, sondern auch vom lokal bekannten Street Art Künstler Victor Szabo großflächig übermalt. Das Schulgebäude wurde 2016 abgerissen und die Wandmalerei eingelagert. Es galt abzuwägen, ob das Kunstwerk erhaltenswert ist oder es sich um einen Totalverlust handelt. Eine Machbarkeitsstudie und die Anwendung des Decision-Making Models führten zur Entscheidung, die Übermalungen abzunehmen und das ursprüngliche Gemälde an einem neuen Ort erfahrbar zu machen. Die Suche nach einem geeigneten Ort erfolgt in Kooperation mit dem Bau- und Liegenschaftsbetrieb NRW (BLB).
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Die Pressemitteilung vom 12. Juli 2021 als PDF lesen.
Bewährung des Modells
„Einige Fragen wurden durch die Überprüfung in der Praxis geschärft oder neu sortiert, da ihre vorherige Position nicht zielführend war“, sagt Giebeler. Insgesamt haben die zwei Fallstudien jedoch gezeigt, dass das Modell Restauratorinnen und Restauratoren eine sehr gute Struktur für die Entscheidungsfindung im beruflichen Alltag bietet. Es soll künftig auch in studentischen Lehrforschungsprojekten eingesetzt werden. Das Forschungsprojekt „Decision-Making Model for Contemporary Art Conversation und Presentation“ wurde von der Wüstenrot Stiftung gefördert.
Juli 2021