Lesen: Pantherzeit - Eine Lesung mit Marica Bodrožić
Auf dem Bildschirm ist das bekannte Gedicht „Der Panther“ von Rainer Maria Rilke zu lesen. Es ist still, niemand spricht. Nun wird das Gedicht einmal vorgelesen, wieder Stille. Ein ermutigender und besonderer Anfang einer Zoom-Sitzung. Prof. Dr. Andrea Platte begrüßt mehr als 80 Teilnehmende zum Forum Inklusive Bildung.
Besonders begrüßt sie aber Frau Marica Bodrožić, die aus Berlin zugeschaltet ist.
Frau Bodrožić ist Schriftstellerin, sie hat bereits verschiedene Titel veröffentlicht und auch Preise und Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Walter-Hasenclever- Literaturpreis für ihr Gesamtwerk. Für uns liest sie aus dem aktuellen Buch „Pantherzeit – Vom Innenmaß der Dinge“.
Die Texte dieses Buchs entstanden im Frühling 2020 während des ersten Lockdowns. Die Autorin ermutigt ihre Nachbarn täglich zu einer festgelegten Zeit das Gedicht „Der Panther“ gemeinsam zu lesen.
Marcia Bodrožić liest drei längere Abschnitte aus dem Buch. Diese Abschnitte sind unterbrochen von Fragen und geschickten Überleitungen zur nächsten Vorleseeinheit. In diesen neunzig Minuten liest Frau Bodrožić berührende Textpassagen und gibt kluge Anregungen auf die Fragen, die von Frau Platte und aus dem Plenum gestellt werden.
Die Veranstaltung endet mit der Einblendung des Texts, der auf dem Buchrücken der „Pantherzeit“ zu lesen steht:
„Jetzt aber ist eine Zeitenwende da und wir sind ihr Anfang, der anderen einmal Geschichte sein wird.“
Schon in diesem einen Satz wird deutlich, wie wichtig Marica Bodrožić jedes einzelne Wort an der richtigen Stelle des Satzes ist. „Jetzt aber“ klingt in diesem Satz ganz anders als wäre die Formulierung „aber jetzt“ gewählt.
Die Mächtigkeit der Sprache ist ein immer wieder kehrendes Thema im Werk von Marica Bodrožić. Genaue Beobachtungen von ihrem Berliner Balkon und ihre Gedanken werden in eine besondere Sprache gefasst. Vieles liest sich laut noch einprägsamer, als es ein stilles, flüchtiges Lesen erreichen könnte.
So lesen Marica Bodrožić und ihre Nachbarn auch das Gedicht „Der Panther“ von Rainer Maria Rilke laut. Rilke schrieb das Gedicht Anfang des 20. Jahrhunderts, ich gehöre zu denen, die dieses Gedicht in der Schulzeit interpretieren durften. Neben verschiedenen anderen Analysetechniken, die im Deutschunterricht wichtig sind, haben wir auch auf die verwendeten Vokale geachtet:
„Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.“
Marica Bodrožić zählt keine Vokale, sie spricht von der „klanglichen Freude“ und auch von dem „Klangraum der Sprache“. Dieser sei je nach Sprache sehr unterschiedlich und werde schon sehr früh verstanden, ohne dass jemand die Worte der jeweiligen Sprache kennen müsse.
Marica Bodrožić selbst wuchs mit verschiedenen Dialekten der Eltern auf. Sie sagt, dass diese Mehrsprachigkeit ihre Welt vergrößert habe. Sprache dient in ihrem klassischen Ziel der Verständigung. In einer gemeinsamen Sprache wird dem Gegenüber eine „Zugewandtheit“ geboten. In der Diskussion über Mehrsprachigkeit bringt Frau Bodrožić den Gedanken ein, dass wir doch lieber die Freude an der Sprache würdigen und nicht wegdrücken sollten, wenn es denn eine ‚andere‘ Sprache sei. Auch sei es kein Grund zur Scham, eine Sprache nicht zu kennen.
Diese anregenden Gedanken nehme ich mit in die zukünftige Arbeit im Feld der Kindheitspädagogik. Spracherwerb ist sicherlich heute schon ein Feld, das in vielen Kindertageseinrichtungen beachtet wird. Doch bisher habe zumindest ich es sehr reduziert auf den klassischen „Erwerb“ von Vokabeln und Satzstellung. Oft geht es darum, den Kindern in der Einrichtung zu einem Mindestwortschatz zum Schulanfang zu verhelfen. Natürlich ist es in unserem derzeitigen Schulsystem sehr hilfreich, wenn die Kinder auf Deutsch Dinge benennen und auch zählen können. Aber über die Vorbereitung auf die Grundschule hinaus gilt es doch für die Kinder und deren Eltern zwei wunderbare Schätze zu bergen. Die Kinder und ihre Eltern können und sollen in ihrer Familiensprache sprechen, die gute Verständigung ist sicherlich auch ein ganz wesentlicher Faktor in der Bindung der Kinder an ihr Elternhaus. Die deutsche Sprache sollte zudem in ihrer Gesamtheit erfasst werden. Wie Frau Bodrožić vom „Klangraum“ spricht, gilt es, den jungen Kindern in der Einrichtung ein ganz umfängliches Hörerlebnis zu vermitteln. Auf diese Weise prägen die Kinder sich den Klang der Sprache, die Melodik ein. Es gilt, auch umfänglichere Texte zu lesen, die die Kinder in Bilderbühern mitlesen können. Frau Bodrožić hat mit ihren Nachbarn und Nachbarskindern den „Panther“ laut gelesen. Mich hat sie ermutigt, auch Lyrik in den Bücherkanon der Einrichtung aufzunehmen. Neben der wunderschönen Ausgabe von Julia Nüsch zum „Panther“ gibt es weitere sehr gute Bücher zu neuen und alten Gedichten in deutscher Sprache.
Meine Ermutigung: Lest! Lest laut! Lest langsam!
Mein Kauf- bzw. Lesempfehlungen:
„Die Pantherzeit“ von Marcia Bodrožić ist im Otto Müller Verlag erschienen.
Das Gedicht „Der Panther“ ist in einer von Julia Nüsch wunderbar illustrierten Ausgabe im Kindermann Verlag Berlin erschienen.
Karin Bellmann
Januar 2021