Leben Sie jetzt die Fragen. Haben Sie Geduld gegen alles Ungelöste.
Studiendekanin Prof. Dr. Andrea Platte ermuntert in ihrer Begrüßung der neuen Studierenden an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften Fragen nachzugehen, Fragen zu stellen, neue Fragen zu finden, zurückzufragen, zu hinterfragen…
Prof. Dr. Andrea Platte Erstsemesterbergüßung
Guten Tag und herzlich Willkommen an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der TH Köln.
Ich bin Andrea Platte, und begrüße Sie hier als Studiendekanin - und bei der Gelegenheit nehme ich Sie gleich mit in die hochschulischen Strukturen: Als Professorin für Bildungsdidaktik lehre ich hier in beiden BA Studiengängen, und als Studiendekanin wurde ich für 4 Jahre gewählt, um Studienverläufe und das Lehrangebot zu verantworten. Das Dekanat wird jeweils für 4 Jahre gewählt und besteht aus einem Dekan, der die Leitung der Fakultät ist, aus mir, seiner Vertreterin, Prodekanin und einer weiteren Prodekanin für Forschung, Dagmar Brosey.
Im Namen des Dekanats. Der Fakultät begrüße ich Sie heute herzlich. Die Technische Hochschule Köln hat 12 Fakultäten auf verschiedenen Standorten. Jede Fakultät hat einen Fakultätsrat, in dem Lehrende Mitarbeitende und Studierende sind – alle gewählt und dieses Gremium entscheidet über die wesentlichen Belange der Fakultät.
Ohne in diesem allerersten Moment tiefer in die demokratischen Strukturen der Hochschule und ihrer Gremien zu gehen, lade ich Sie doch jetzt schon ein, sich auch neben den Lehrveranstaltungen zu beteiligen, in der Fachschaft, im Studienbeirat, im Fakultätsrat – schauen und hören Sie, wo und wie Sie sich einbringen, mitbestimmen und gestalten können. Wir freuen uns, dass Sie hier sind, Sie werden in den Einführungstagen die weiteren Personen kennenlernen, die wichtig sind und erreichbar für Ihre Fragen – das ist Caroline Lehmann, die im Büro Studium und Lehre die Studiengänge koordiniert, das ist Bernhard Wilmes, der E-Learning Beauftragte, Sandy Lindner die diese Einführungstage maßgeblich vorbereitet hat – das sind die Studiengangsleitungen, Sie werden Sie gleich im Anschluss kennenlernen und die Tutorinnen, das sind Studierende, die Sie beim Ankommen begleiten werden.
Wir sind erreichbar für Fragen.
Ich möchte Ihnen noch ein paar inhaltliche Worte und Gedanken mitgeben für den Einstieg ins Studium und ich lese zunächst ein paar Sätze, die nicht von mir stammen:
„Sie sind so jung, so vor allem am Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten (…) Geduld zu haben, gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.“ (Rilke)
Das schreibt der Dichter Rainer Maria Rilke an den Dichter Franz Xaver Kappus, der ihn als Lehrer, Mentor um Beratung gebeten hatte, der Briefwechsel fand statt zwischen 1905 und 1908, erschienen im Insel Verlag 1929.
Egal, ob Sie so jung sind, wie der junge Dichter, an den Rilke hier schreibt, egal, ob Sie am Anfang stehen oder schon ein Studium abgeschlossen oder begonnen haben: Leben Sie jetzt die Fragen. Haben Sie Geduld gegen alles Ungelöste.
Dazu möchte ich Sie ermuntern. Sie haben die Gelegenheit, Fragen nachzugehen, Fragen zu stellen, neue Fragen zu finden, zurückzufragen, zu hinterfragen… Erwarten Sie keine eindeutigen Antworten. Rechnen Sie vielmehr damit, dass Antworten, je nachdem, wen sie fragen, wann sie fragen, unterschiedlich ausfallen, in Bewegung sind, widersprüchlich sein können. Rechnen Sie auch nicht damit, dass alle Fragen beantwortet werden… Im pädagogischen Alltag und auch im Alltag der Sozialen Arbeit mag es zu der Erwartung kommen, dass sie klare Antworten geben: Was ist die angemessene Reaktion auf etwas? Was ist das Ziel, wie erklärt sich ein Verhalten, wie setzte ich etwas um…
Professionelle Expertise zeigt sich nicht immer in der einen klaren – gelernten – Antwort – sie kann sich auch gerade im Hinweis auf Ungewissheit ausdrücken, in der Bereitschaft, eine Antwort als eine von mehreren Möglichkeiten zu verstehen, nach Antworten aus unterschiedlichen Perspektiven zu suchen…. Oder auch mit Fragen weiterzukommen, nicht mit Antworten.
Manchmal werden Fragen professionell eingesetzt – so gibt es z.B. die 9 W-Fragen zur Planung von didaktischen Handlungen nach Hilbert Meyer
Oder die 7 Fragen zur Textinterpretation im Deutschunterricht oder als Wegweiser für Journalisten
Die 7 journalistischen "W-Fragen"
wer (hat etwas getan)
was (hat er denn getan)
wo (hat er es getan)
wann (hat er es getan)
wie (hat er es getan)
warum (hat er es getan)
woher (ist die Information)
In einem Roman von Sandro Veronesi las ich vor wenigen Tagen:
„Häufig ist es unter den sehr ehrbaren Dienern unseres Suchens (wer, wie, wann, wo, was und warum) das Wann, das die Rettung von der Verdammnis trennt“
Und etwas später schreibt er von dem Augenblick, der Fragen stellen lässt,
„… alle, auch die quälendsten – der Augenblick, sich dem anspruchsvollsten der sechs ehrbaren Diener anzuvertrauen, dem Warum“.
Im Studienverlauf werden Ihnen vielleicht die ca. 700 Fragen aus dem Index für Inklusion begegnen, die Diskussionen über eine gute, gemeinsame, partizipative Entwicklung von Bildungseinrichtungen anregen wollen…
Es gibt allerdings auch Fragen, die ich nicht gerne höre – und auch die verrate ich Ihnen schon heute:
„In welchem Raum ist Ihr Büro?“ Das steht auf meiner Signatur, das steht auf meiner Homepage – und Sie können sich vorstellen, wie viele Studierende…
Oder: „Haben Sie die Noten schon weitergeleitet?“
oder
„Was möchten Sie denn, wie ich meine Prüfungsleistung gestalte? Was genau erwarten Sie da von mir…?“
Ich möchte vor allem, dass Sie hinter dem stehen, was Sie schreiben – und dass Sie es angesichts Ihrer Auseinandersetzung mit dem Gegenstand schreiben, nicht im Dienste meiner Anforderungen oder der anderer Lehrender machen.
Vielleicht unterscheiden sich hier inhaltliche von verwaltenden Fragen. Fragen, die gestellt werden und die eine Antwort erwarten, und Fragen, die man leben kann. So schrieb Rilke:
Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein
Aus den Zeilen Rainer Maria Rilkes spricht die Kraft jenseits und vor der Beantwortung von Fragen. Erlauben wir uns im Studium auch bei Fragen zu verweilen, zu hinterfragen, uns irritieren zu lassen, um Fragen zu kreisen … – Antworten nicht ablehnend, aber auch nicht abschließend zu verstehen, sondern als Punkt von dem aus weiter und neu gefragt werden kann - ob es vielleicht mehrere Antworten gibt als eine, ob sie veränderbar ist aus je anderer Perspektive, zu einer anderen Zeit…
Ich freue mich darauf, mich von Ihren Fragen überraschen zu lassen und wünsche Ihnen, dass Sie Fragen stellen, um in die Antworten hineinleben zu können –
so könnte Studieren beschrieben werden.
Herzlich Willkommen!
Oktober 2021