Ist Deutschlands Wirtschaft in Gefahr?
Expert*innen sehen eine anhaltende Krise für die deutsche Wirtschaft heraufziehen, ein renommiertes Magazin berichtet gar wieder vom „kranken Mann Europas“. Prof. Dr. Agnieszka Gehringer vom Schmalenbach Institut für Wirtschaftswissenschaften erläutert im Interview die Ursachen für die pessimistischen Aussichten und schildert die kurz- und langfristigen Folgen für den Standort Deutschland.
Frau Prof. Gehringer, wie beurteilen Sie die derzeitige Lage der deutschen Wirtschaft?
Forschungsinstitute prognostizieren eine Rezession für das laufende Jahr. Kommt es zu diesem konjunkturellen Einbruch, würde zum einen die Wirtschaftsleistung sinken, zum anderen könnte die Zahl der Arbeitslosen steigen. Ob das eintreffen wird, ist noch nicht abzusehen. Klar ist aber, dass die Industrieproduktion im Juli 2023 hierzulande um knapp zwei Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat gesunken ist. Zudem beobachten wir weniger Auftragseingänge bei den Unternehmen. Volkswirte sehen darin Indikatoren für eine Rezession.
Darüber hinaus gibt es Anzeichen für eine anhaltende, strukturelle Krise. So wächst Deutschlands Bruttoinlandsprodukt seit 2017 beunruhigend schwach. Selbst die traditionell weniger dynamisch wachsenden EU-Länder wie Italien oder Frankreich haben uns abgehängt.
Gibt es eine zentrale Ursache für diese Situation?
Wie bei der Beurteilung der aktuellen wirtschaftlichen Situation ist es auch bei der Frage nach den Ursachen sinnvoll, zwischen kurz- und längerfristigen Entwicklungen zu unterscheiden. Wobei sich diese überlagern und teilweise gegenseitig beeinflussen. Nach wie vor müssen sich einige Firmen mit den Nachwirkungen der gestörten Lieferketten aufgrund der Corona-Pandemie auseinandersetzen. Des Weiteren haben der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die darauffolgenden Sanktionen der westlichen Staaten zu starken Preissteigerungen für fossile Energien geführt. Das wiederum hat die Produktionskosten erhöht und die Inflation angeheizt.
Als Reaktion auf den Anstieg des allgemeinen Preisniveaus hat die Europäische Zentralbank (EZB) ihren Leitzins angehoben – zum zehnten Mal seit Juli 2022. In der Folge wird es für Banken teurer, sich Geld von der EZB zu leihen. Um diese Kosten auszugleichen, erhöhen die Banken im Gegenzug die Zinsen für die Kredite, so dass Firmen weniger investieren und private Verbraucher*innen weniger konsumieren. In dieser Situation trägt die Geldpolitik der EZB sowohl zur konjunkturellen Flaute als auch – über die Verschlechterung der Investitionsbedingungen – zur strukturellen Krise bei.
Sehen Sie weitere Gründe für die schlechten Prognosen?
Eine weitere wesentliche Ursache für die konjunkturelle Schwäche ist auf die Fokussierung der deutschen Wirtschaft auf Exporte nach China zurückzuführen. Das Land sieht sich momentan mit mehreren Herausforderungen konfrontiert, die sich auch auf Deutschland auswirken. Ein akutes Problem stellt der überschuldete Immobiliensektor in der Volksrepublik dar. Zwar müssen wir vermutlich nicht mit einem Kollaps des Immobiliensektors und – als Nebenwirkung – des gesamten Wirtschaftssystems wie in den USA 2007/2008 rechnen. Dennoch ist davon auszugehen, dass die chinesische Regierung versuchen wird, den Immobiliensektor und die Wirtschaft insgesamt zu entschulden. Dadurch könnten sich die Aktivitäten der dortigen Industrie verlangsamen, was sich wiederum negativ auf die Exporte deutscher Unternehmen auswirkt.
Welche Entwicklungen haben zur strukturellen Schwäche der deutschen Wirtschaft beigetragen?
Da ist zum einen die Demografie anzuführen. In den nächsten Jahren gehen die geburtenstarken Jahrgänge in Rente. Mit ihnen verliert die Industrie viele qualifizierte Angestellte, insbesondere in den technischen Berufsfeldern. Diese Lücke kann kurzfristig nicht kompensiert werden. Angesichts des anhaltenden Fachkräftemangels zögern viele Unternehmen ihre Produktions- und Investitionsentscheidungen hinaus.
Das ist aber nicht die alleinige Ursache, im Hintergrund erschweren die Rahmenbedingungen des Standorts Deutschland ein zukunftsfähiges Wirtschaften. Die Unternehmen zahlen hierzulande im europäischen Vergleich die höchsten Steuern. Hinzu kommt die marode öffentliche Infrastruktur bei Schienen und Straßen, die nach wie vor schleppende Digitalisierung, sowie eine komplizierte Bürokratie mit langwierigen Planungs- und Genehmigungsverfahren. Die Politiker*innen in Berlin und Brüssel haben die Herausforderungen längst erkannt, aber eine spürbare Verbesserung wird sich nur langsam bemerkbar machen.
Wie bewerten Sie die Maßnahmen und Lösungsvorschläge seitens der Politik?
Um die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu verbessern, hat Bundeskanzler Olaf Scholz den sogenannten Deutschland-Pakt vorgeschlagen, der vier zentrale Komponenten umfasst: schnellere Genehmigungsverfahren, eine Modernisierung der Verwaltung, die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen etwa durch steuerliche Entlastungen und die Gewinnung von Fachkräften aus dem Ausland.
Diese Initiative ist zu begrüßen, aber bis auf das kürzlich beschlossene „Wachstumschancengesetz“ steht alles andere bisher nur auf dem Papier und muss erst noch mit konkreten Maßnahmen unterfüttert und auch umgesetzt werden. Hier habe ich meine Zweifel, ob der politische Reformwille ausreichend groß ist und sich die Ampelkoalition auf das Wesentliche konzentrieren und zeitnah einigen wird. Falls nicht, verpassen wir zum wiederholten Male den Anschluss an die globalen Entwicklungen, vor allem in China und in den USA. Gerade die Vereinigten Staaten haben mit dem Inflation Reduction Act ein massives Förderprogramm aufgelegt und Anreize für Unternehmen geschaffen, in umweltfreundliche Technologien zu investieren. Und das wirkt sich bereits jetzt aus, weil die Behörden pragmatisch agieren und die Firmen direkt loslegen können.
Neben den besprochenen Herausforderungen muss Deutschland in den nächsten Jahren ambitionierte Klimaziele erreichen. Wie kann es gelingen, dass Emissionen gesenkt und wirtschaftliche Impulse gesetzt werden?
Es ist ausreichend Know-how vorhanden, um die erforderlichen technologischen und dabei umweltfreundliche Innovationen zu entwickeln. Wenn die Rahmenbedingungen verbessert werden, ist ein „grünes Wachstum“ zu erreichen. Es wird eine enorme Kraftanstrengung für den privaten und öffentlichen Sektor sowie für die Bevölkerung. Werden die zahlreichen Baustellen konsequent angegangen und allen vor allem die Barrieren für die privaten Investitionen abgebaut, kann Deutschland sowohl den Klimaschutz vorantreiben als auch die Wertschöpfung nachhaltiger ankurbeln.
September 2023