Geschützteres Aufwachsen im digitalen Raum
Wie können die gleichberechtigte Teilhabe, der Schutz und die Förderung der Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen im digitalen Umfeld besser verwirklicht werden? Zu dieser Frage haben Prof. Dr. Friederike Siller vom Institut für Medienforschung und Medienpädagogik und Prof. Dr. jur. Julia Zinsmeister vom Institut für Soziales Recht ein Gutachten für das Deutsche Kinderhilfswerk erarbeitet.
Prof. Zinsmeister, haben Kinder ein Recht auf ein Handy?
Zinsmeister: Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe. Dies schließt ihre digitale Teilhabe ein. Digitale Medien eröffnen jungen Menschen Räume, in denen sie alleine und mit anderen spielen, sich informieren und austauschen, kreativ betätigen und ihre Meinung äußern können. Der UN-Kinderrechteausschuss und der Europarat haben Deutschland und die anderen Vertragsstaaten darum aufgefordert, den Rechten von Kindern und Jugendlichen auf Teilhabe, Beteiligung, Schutz und Förderung auch im digitalen Umfeld besser Geltung zu verschaffen. Bund, Länder und Kommunen müssen Neugeborenen dazu kein Handy finanzieren, aber die Mindestbedingungen schaffen, die junge Menschen brauchen, um das Internet möglichst selbstbestimmt und sicher in einer ihrem Alter und ihrer Entwicklung angemessenen Weise nutzen zu können.
Weitere Informationen und Link zum kostenfreien Download des Gutachtens
Welche Mindestbedingungen sind das?
Zinsmeister: In unserem Gutachten thematisieren wir unter anderem die Notwendigkeit, Privathaushalten und Bildungseinrichtungen einen erschwinglichen Zugang zur Breitbandversorgung zu sichern und die Grundsicherung so zu bemessen, dass auch von Armut bedrohte junge Menschen digitale Endgeräte erwerben und betreiben können. Im Netz müssen sie altersgerecht gestaltete Räume vorfinden, in denen sie spielen, lernen, gestalten und ein positives Selbstbild entwickeln können. Medienpädagogische Angebote, wie man sie zum Beispiel über Plattformen wie www.seitenstark.de oder www.handysektor.de findet, fördern ihren kritischen und kreativen Umgang mit digitalen Medien und unterstützen junge Menschen und ihre Bezugspersonen darin, Onlineangebote so zu nutzen, dass sie sich und anderen nicht schaden. Die Anbieter digitaler Dienste müssen in die Pflicht genommen werden, Vorkehrungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen zu treffen, zum Beispiel durch sichere Voreinstellungen und effektive Melde- und Abhilfeverfahren.
Prof. Siller, die Vereinten Nationen, der Europarat und die Europäische Union betonen einhellig die Pflicht der Staaten, proaktive und wirksame Maßnahmen zum Schutz junger Menschen vor Überforderung, Diskriminierung, Hass, Missbrauch und Gewalt im Netz zu ergreifen und hierzu auch die IT-Branche in die Verantwortung zu nehmen. Wie bewerten Sie den aktuellen Stand der Umsetzung in Deutschland?
Siller: Bei unserer Sichtung zum Stand der Umsetzung der Kinderrechte im digitalen Umfeld in Deutschland haben wir drei Hauptthemenfelder behandelt: den kindgerechten Zugang zum digitalen Umfeld, kindgerechte Informationen, Funktionen und Dienste sowie die Teilhabe und Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Es ergibt sich ein komplexes Bild, das man differenziert betrachten muss. Wir haben in Deutschland zum Beispiel eine große Angebotsvielfalt im Netz für Kinder und Jugendliche. Pädagogisch wertvollen Inhalten kommt ein hoher Stellenwert zu, gleichzeitig gibt es aber wenig Mittel und Unterstützung für den Aufbau und die Förderung zeitgemäßer, digitaler Infrastrukturen für junge Menschen.
Oder schauen Sie auf das Thema Teilhabe: In Deutschland gibt es auf lokaler, kommunaler Ebene oftmals gute Formate zur Beteiligung junger Menschen, etwa Jugendparlamente oder Schüler*innenvertretungen. Nun geht es aber darum, diese um Angebote zur digitalen Beteiligung zu erweitern – regional und überregional. Formen der Ad-hoc-Beteiligung wie Barcamps – ein frei zugänglicher Austausch mit offenen Workshops zu einem Themenfokus – könnten im Netz gestärkt werden oder auch in hybriden Formaten durchgeführt werden, um eine frühzeitige und niedrigschwellige Beteiligung zu ermöglichen. Grundlegend befindet sich Deutschland auf dem Weg, die Rechte von Kindern im digitalen Umfeld im Dreiklang von Schutz, Befähigung und Teilhabe zu stärken.
Welche Handlungsbedarfe leiten Sie aus diesen Beobachtungen ab?
Siller: Im Gutachten haben wir Handlungsbedarfe in verschiedenen Arbeitsfeldern identifiziert. Ein zentraler Ansatz zur Stärkung der Kinderrechte im Digitalen Umfeld ist die Medienbildung, sowohl im schulischen als auch im außerschulischen Kontext, und damit einhergehend die Qualifizierung von Lehr- und Fachkräften im Bereich Medienpädagogik. Ein weiterer Bedarf besteht bei den Anbietern digitaler Medien im Kinderumfeld. Es wäre ratsam, Programme aufzusetzen, die die Influencer*innen, Content-Verantwortliche und ihre jeweilige Community für kinderrechtliche Themen sensibilisieren. Dies könnte durch Aufklärungskampagnen oder Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen geschehen. Anbieter, die ihre Produkte im Kinderumfeld platzieren, sollten ermutigt werden, von Anfang an Kinderrechte und ethische Aspekte im digitalen Umfeld von jungen Menschen zu berücksichtigen.
Zinsmeister: Eine aktuelle Lücke in Deutschland besteht darin, dass es kein systematisches, unabhängiges Monitoring zur Umsetzung der Kinderrechte im digitalen Umfeld gibt. Es wäre aber erforderlich, die kinderrechtliche Situation im digitalen Umfeld kontinuierlich zu verfolgen, um Entwicklungen und Schwachstellen zu erkennen. Die identifizierten Handlungsfelder in unserem Gutachten liefern Impulse, die als Grundlage für die Entwicklung von Maßnahmen in Politik und Zivilgesellschaft dienen können. Diese sollen dazu ermutigen, eine umfassend kinderrechtliche Ausrichtung in Politik und Zivilgesellschaft zu verfolgen, die im besten Interesse ihrer Kinder handelt.
Januar 2024