Gefahren mit Hilfe von elektrischer Muskelstimulation besser wahrnehmen
Wie kann man mit Hilfe von Technologie die räumliche Wahrnehmung verbessern und einen Sinn für Gefahren in der Mensch-Maschine-Interaktion entwickeln? Mit dieser Frage hat sich der Student Vimal Darius Seetohul von der Fakultät für Informatik und Ingenieurwissenschaften in seiner Masterarbeit beschäftigt. Im Interview mit Prof. Dr. Matthias Böhmer spricht er über seine Arbeit.
Vimal Darius Seetohul ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Cologne Institute for Digital Ecosystems (CIDE). Seine Masterarbeit mit dem Titel „Towards Enhancing Spatial Awareness through Electrical Muscle Stimulation“, die von seinem Betreuer Prof. Dr. Matthias Böhmer mit 1,0 bewertet wurde, hat er als Beitrag für die international renommierte Konferenz „ACM SIGCHI Symposium on Engineering Interactive Computing Systems 2021“ eingereicht, wo diese zur Publikation als Short-Paper akzeptiert wurde.
Herr Seetohul, wie können Gefahrenbereiche mittels EMS besser wahrnehmbar gemacht werden?
Seetohul: Elektrische Muskelstimulation, kurz EMS, kann als Technologie genutzt werden, um die räumliche Wahrnehmung zu verbessern und einen Sinn für Gefahren zu entwickeln. In Fabriken zum Bespiel kann es rund um Maschinen Gefahrenbereiche geben, die nicht immer im Blickfeld von Arbeitenden sind. Mit elektrischen Muskelstimulationen in verschiedenen Intensitäten kann davor gewarnt werden – je stärker ein Signal ist, desto näher befindet sich die Person am Gefahrenbereich.
Prof. Böhmer, was unterscheidet EMS von anderen Feedback-Verfahren?
Böhmer: Bisher kennt man die elektrische Muskelstimulation vor allem im Sport oder in der Medizin. Dort wird sie zum Beispiel eingesetzt, um Übungen intensiver und wirksamer zu machen. Im industriellen Kontext ist der Einsatz noch nicht sehr weit erforscht. Das spannende an EMS ist, dass der Effekt deutlich unmittelbarer am Körper wirkt als bei anderen Feedback-Verfahren wie beispielsweise Vibration oder visuellem Feedback. Das liegt daran, dass EMS nicht nur die Haut stimuliert, sondern auch den Muskel aktuiert, also ansteuert. Das kann von einem schwachen Impuls bis hin zum sognannten Force Feedback reichen – das heißt, dass das elektrische Signal so stark ist, dass dadurch ganze Körperteile in Bewegung gesetzt werden.
Herr Seetohul, wo setzt Ihre Masterarbeit da an?
Seetohul: In meiner Arbeit habe ich in einer empirischen Studie untersucht, wie über ein computergeneriertes Signal für kontrolliert spürbare Muskelkontraktionen ein erweitertes Empfinden von räumlicher Distanz geschaffen werden kann. Im Rahmen eines Experiments habe ich erprobt, wie gut Probandinnen und Probanden Signale mit unterschiedlichen Intensitäten unterscheiden können. Dazu habe ich Elektroden an vier Stellen – rechter und linker Ober- sowie Unterarm – angeschlossen und Signale übermittelt. Die maximale Intensität wurde dabei zunächst als Referenz vorgegeben. Es ging dabei aber nur um einfache Impulse, nicht um Force Feedback. Die Probandinnen und Probanden hatten während des Experiment zudem selbst Kontrolle darüber, wann das Signal durchkommt und wann nicht.
Was konnten Sie herausfinden?
Seetohul: Die Probandinnen und Probanden haben ein Kribbeln, Klopfen, Zucken oder Zwicken gespürt. Die Wahrnehmung der elektrischen Muskelstimulation über den linken Arm war dabei deutlich ausgeprägter als über den rechten Arm. Insgesamt wurden die verschiedenen Intensitäten sehr gut wahrgenommen und das Gehirn konnte diese verarbeiten. Das Experiment war somit sehr erfolgreich und hat gezeigt, dass räumliche Informationen, die in haptischem EMS-Feedback kodiert sind, grundsätzlich nachvollziehbar und auch unterscheidbar sind.
Welche Hürden gibt es in der Anwendung von EMS?
Seetohul: Ein Problem, das innerhalb meines Experiments auftrat, war die Muskelermüdung. Je länger ein Körperteil elektrisch stimuliert wird, desto müder wird es und desto ungenauer können die Intensitäten unterschieden werden. Zudem habe ich das Experiment in sitzender Position durchgeführt. Die Wahrnehmung der Signale kann sich im Stehen oder während des Gehens aber anders verhalten. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die Technologie natürlich auch angenommen werden muss. Das heißt, dass die Autonomie und Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt werden sollte – Force Feedback kommt demnach nicht infrage. Mit Blick in die Zukunft wäre also ein System, das sich leicht an- und ablegen lässt, von Vorteil. Das stärkt das Vertrauen in die Technik und ist ebenfalls für die medizinische Zulassung wichtig.
Böhmer: Diese Frage wird tatsächlich noch sehr wichtig sein für künftige Forschung: Wo bringe ich die Elektroden am Körper beziehungsweise an der Haut sinnvoll an? Hier bedarf es eines richtigen Wearables wie etwa einer Smartwatch. Eine andere Lösung wären Anzüge wie es sie im Sportbereich bereits gibt, in die Elektroden zur elektrischen Muskelstimulation integriert sind. Keine Hürde, aber sehr relevant sind zudem ethische Aspekte. Was halten wir davon, wenn ein Computer so stark in unseren Körper eingreifen kann?
Welche Potenziale liegen in den Ergebnissen?
Seetohul: Es gibt verschiedene Anwendungsbereiche, in denen elektrische Muskelstimulation sinnvoll zum Einsatz kommen kann. Beim Fahren von Autos oder Lastkraftwagen etwa könnte mit Hilfe von EMS vor Gefahren im toten Winkel oder vor Gefahren, die beispielsweise von anderen Verkehrsteilnehmenden verdeckt sind, gewarnt werden. Im industriellen Kontext könnten mit Hilfe der Technologie zum Beispiel Arbeitsplätze sicherer gestaltet werden, indem vor Sägen oder anderen Maschinen gewarnt wird. Zusätzlich könnte EMS auch im Freizeitbereich im Zusammenspiel mit virtueller Realität genutzt werden, um einen zusätzlichen virtuellen Sinn darzustellen.
Böhmer: Das Ergebnis der sehr forschungsorientierten Masterarbeit von Herrn Seetohul hat eine hohe Relevanz für die Gestaltung von taktilem Feedback im Bereich der Mensch-Maschine-Interaktion. Wie er selbst beschreibt, ist der entwickelte Ansatz direkt anwendbar im industriellen Kontext, wo beispielsweise eine erlebbare Distanz zwischen Menschen und Maschinen die Sicherheit erhöhen kann. Wir arbeiten an solchen Fragestellungen beispielsweise in unserem Forschungsprojekt ,MagnOtrop‘ und planen weitere Projekte und Forschungsarbeiten, die an die Ergebnisse anknüpfen können.
September 2021