"Fremde Kulturen wirken wie neue Theorien"
Wie unterschiedlich die Auffassungen von Didaktik und Lehre im internationalen Vergleich sind, haben die Professoren Dr. Michaele Völler und Dr. Christian Rennert erlebt. Während ihrer Auslandsaufenthalte an Universitäten in Florida und Korea trafen sie auf vollkommen andere Hochschulsysteme – und auf weitere kulturelle Unterschiede.
(Bild: Thilo Schmülgen/TH Köln)
Frau Völler, Sie haben in Ihrem Forschungssemester u.a. untersucht, warum US-Amerikaner um 30 Prozent zufriedener mit Sachversicherungen sind als Deutsche. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?
Michaele Völler: Zu keinem, bzw. zu einer Theorie, die ich aber leider noch nicht empirisch belegen kann. Ich wollte herausfinden, was die US-amerikanischen Versicherer anders machen, ob sie Modelle haben, die im Vergleich zu unseren richtig "fancy" sind. Aber dem ist nicht so, ganz im Gegenteil: In der Breite läuft alles noch sehr traditionell. Die Versicherungsprodukte selbst bieten oft weniger Leistung bei höheren Prämien im Vergleich zu Deutschland. Es gibt auch keine Onlinevergleichsportale für Versicherungen, bei denen man sich anonym informieren kann wie bei uns. Vieles wird noch sehr traditionell über Versicherungsagenten abgewickelt. Genauso, wie ich feststellen musste, dass das Onlinebanking kaum verbreitet ist, sondern man immer noch mit Papierschecks arbeitet. Meine Theorie ist, dass nicht die Versicherungen besser sind, sondern die US-Amerikaner besser bewerten als Deutsche. Die neue Forschungsfrage ist jetzt also, ob die Unterschiede in der Zufriedenheit schlicht kulturell bedingt sind. Um eine empirische Studie hierzu durchzuführen, fehlte mir in Florida aber leider die Zeit.
Auf welchen Beobachtungen stützen Sie Ihre Theorie?
Michaele Völler: Diese Unterschiede zeigen sich auch bei der Evaluation der Studierenden in unserem gemeinsamen Global MBA-Studiengang: Deutsche Studierende bewerten grundsätzlich ein bis zwei Noten schlechter als USamerikanische, obwohl sie mit dem Unterricht durchaus zufrieden sind. Eine drei ist bei uns eine gute Note. In den USA wird außerdem viel mehr Wert auf Service- und Kundenorientierung gelegt, vor allem in der Kommunikation. Sie können der schlimmste Kunde sein und sich unmöglich aufführen und werden dennoch zuvorkommend behandelt. "Have a nice day. Great that you are here. We appreciate, that you‘re our customer." Das verfehlt nicht seine Wirkung. Nach einem Meeting sagen die Teilnehmer: "That was a great meeting!" Damit meinen sie eigentlich nur, dass das Meeting stattgefunden hat (lacht)! Das mag in unseren Ohren oberflächlich und floskelhaft klingen, es hat aber auch seine guten Seiten. Man zeigt viel stärker Respekt und Wertschätzung füreinander, das äußert sich in vielen Alltagssituationen. Alles wird gelobt. Das schafft eine gute Atmosphäre und stärkt das Gemeinschaftsgefühl. Und es hilft, sich schneller zu integrieren. Meine Familie und ich haben das selbst erlebt. Ich bin mir sicher, dass wir in Deutschland nicht so schnell und mit offenen Armen in eine Nachbarschaft aufgenommen würden, wie es in Jacksonville der Fall war.
Wenn Kritik aber angebracht ist, sollte man sie doch äußern.
Michaele Völler: Natürlich ist konstruktive Kritik wichtig, denn sie ist auch ein Zeichen von Wertschätzung. Das habe ich den Studierenden vor Ort erklärt. Sie erleben unser deutsches Feedback als recht harsch – weil eben nicht nur die positiven Seiten angesprochen werden. Dabei ist es ist doch viel leichter, etwas Nettes zu sagen, als eine wohlgemeinte Kritik zu formulieren. Dazu muss man sich als Feedbackgeber überwinden, zeigt also: Du bist es mir wert, dass ich Dir sage, wo Du besser werden kannst. Feedback ist Wertschätzung!
Herr Rennert, in ostasiatischen Ländern wird Kritik als Gesichtsverlust gewertet. Haben Sie das in Korea auch erlebt?
Christian Rennert: In China und vor allem in Japan ist das tatsächlich so – beide Länder habe ich früher beruflich häufiger besucht. Die koreanische Mentalität habe ich dagegen als wesentlich näher an unserer Mentalität empfunden. Ich habe Koreaner im Vergleich offener und natürlicher erlebt. Sie haben mir eher gesagt, was sie denken, und ich konnte das umgekehrt auch. Das hätte ich im Vorfeld nicht vermutet. Aus einer fremden Perspektive betrachtet, scheint unser Hang zur Kritik, wenn sie konstruktiv ist, eine geschätzte deutsche Tugend zu sein. Mich hat es fast etwas beschämt, welchen Respekt die Menschen vor allem Deutschland entgegenbringen. Unter deutscher Qualität verstehen sie vor allem Zuverlässigkeit. Wenn wir etwas sagen, machen wir das auch. Unsere Pünktlichkeit war ebenfalls häufig Thema.
Und wie steht es um den viel zitierten Leistungsdruck im Bildungssystem?
Christian Rennert: Der ist gigantisch. Und zwar nicht in dem Sinne, kreativ zu sein, sondern im Abrufen vorgegebener Anforderungen. Widerspruch ist nicht angesagt. Der Notendruck ist extrem, und insofern wird dort häufig eine eher lineare, direktive Lehre praktiziert. Was durchaus verständlich ist, als es dem früheren Ideal entspricht, wirtschaftlich und technologisch zum Westen aufzuschließen. In Europa und vor allem in den USA werden die Maßstäbe gesetzt, die die koreanische Wirtschaft nicht nur kopiert, sondern nach Möglichkeit übertrifft. Eine Studentin zeigte mir ein Bild, auf dem hunderte Mütter an einem bestimmten Tag im Jahr einen Schrein anbeten, damit ihre Kinder gute Noten bekommen!
Völler: Das mache ich auch (lacht).
Christian Rennert: Ich habe gleich zu Anfang meiner Lehrveranstaltung die Studierenden gebeten, ein Referat darüber zu schreiben, was für sie das koreanische Lernmodell bedeutet: 20-Jährige thematisieren darin das Phänomen "Academic Burnout"! Sie haben Bilder gemalt: gesenkte Köpfe, sie fühlen, als ob jemand auf sie einschlägt, so dass sie sich nicht entwickeln können.
Wie haben Sie darauf reagiert?
Christian Rennert: In meiner Vorlesung saßen 33 Koreanerinnen und Koreaner, eine Mexikanerin, eine Türkin und eine Slowenin. In der ersten Stunde hatten alle ihre Bücher und Notizblöcke ausgepackt. Sie haben alles aufgeschrieben, was ich gesagt habe, und dabei keinen Ton gesagt, keine Frage gestellt. Ich dachte: das kann ich nicht sechs Wochen lang durchziehen, das macht mich kirre. Also habe ich anschließend gefordert, dass sich die Studierenden bereits im Vorfeld den Stoff zur jeweiligen Veranstaltung aneignen und Unverstandenes aufschreiben, damit wir dieses dann im Kurs gemeinsam verstehen und durchleuchten können. Es war der Hammer! Alle haben super mitgearbeitet, es war ein sehr intensiver und reflektierter Kurs.
Michaele Völler: Mit unserem Lehr- und Lernkonzept sind wir hier an der TH Köln auf der "Insel der Glückseligen", weil wir hohe Lerntaxonomiestufen erreichen können. Deshalb ist es für uns so erstaunlich, wenn wir andernorts sehen, dass man noch viel mehr auf Wissens- denn auf Kompetenzvermittlung setzt. Ich glaube, wir befinden uns an der TH in einer fortgeschrittenen Situation, nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern auch im internationalen Vergleich.
Haben Sie ähnliches in Jacksonville erlebt?
Michaele Völler: Von ein paar Gastvorträgen abgesehen habe ich keine Lehrveranstaltungen gehalten. Einer unserer Wirtschaftsstudenten, der zufällig ebenfalls gerade ein Auslandssemester an der UNF machte, berichtete mir von einem sehr kleinteiligen Studium. Er habe viele Einzelleistungen innerhalb des Semesters zu absolvieren statt einer übergreifenden Prüfung. Man verliert schnell den Blick für das Gesamtbild, wenn die vielen kleinen Puzzlestücke nicht miteinander vernetzt sind. Der Student sagte mir, er würde durch die Erfahrungen an der fremden Hochschule unseren Lehransatz in Köln nun umso mehr schätzen. Meinen Kindern ging es in der amerikanischen Schule ähnlich. Lehre zielt dort stark auf die Reproduktion von Wissen ab. Für ausgewählte, besonders leistungsstarke Studierende gibt es aber auch an der UNF tolle kompetenzorientierte Lehrmodule: Am Coggin College of Business gibt es zum Beispiel ein Lehrmodul, in dem die Studierenden eine Million Dollar bekommen, um es an der Börse zu verwalten. Kein Spielgeld! Projektbasiertes Lernen ist dort ansonsten eher exotisch, während wir diesen Ansatz viel stärker in die Breite treiben.
Welche Unterschiede haben Sie noch beeindruckt?
Michaele Völler: Es ist erstaunlich: In den USA ist den Menschen "Freedom of Choice" sehr wichtig. Jeder ist seines Glückes Schmied. Unser Kollektivgedanke, auf dem zum Beispiel unsere Krankenversicherung fußt und der durch Obama Care aufgegriff en wurde, ist den Leuten völlig fremd. Und dennoch tun die Menschen sehr viel füreinander, damit es der Gemeinschaft besser geht. Volunteer Work ist in allen Bereichen viel stärker ausgeprägt als bei uns. In der Schule zum Beispiel helfen die Eltern regelmäßig bei Schulprojekten und gemeinnützigen Arbeiten. Und man zeigt stolz seine Zugehörigkeit zu seiner Schule, seiner Uni, seiner Stadt. Es gibt zum Beispiel jeden Freitag den Spirit-Day. Wer dann kein T-Shirt seiner Uni oder seiner Schule trägt, wird komisch angeschaut. Eigentlich finde ich das schön, denn durch die hohe Identifikation wird das Gemeinschaftsgefühl gestärkt, und damit auch die Bereitschaft zu freiwilligen Tätigkeiten.
Wie haben Sie die Gesellschaft in Seoul erlebt?
Christian Rennert: In ostasiatischen Gesellschaften löst sich das individuelle Wohlergehen im kollektiven Wohlergehen auf. Geht es der Gemeinschaft gut, dann geht es dem Individuum auch gut. An der Universität in Seoul gibt es viele Kollegen, die Urban Sociology unterrichten. Gemeint ist damit die Planung von verdichteten, verstädterten Räumen. Wie organisiert man, dass möglichst viele Menschen auf engem Raum leben? Welche Rückwirkungen hat das auf Verkehr, Architektur, Arbeit und Freizeit? Dass diese Fragen vorwiegend von Soziologen und weniger von Architekten und Stadtplanern bearbeitet werden, finde ich spannend. Kollektivistische Gedanken sind im Westen schnell politische Ideologie, während sie in den ostasiatischen Staaten eine Selbstverständlichkeit darstellen. Aber irgendwann kommt das System an seine Grenze, das habe ich in Korea bemerkt. Wirtschaftlich hat dieses Modell bisher gut funktioniert, aber um ihr Land auf eine neue Entwicklungsstufe zu bringen, merken die Koreaner, dass sie nun stärker die kreativen Geister wecken müssen. Die Universität in Seoul ist dabei eine Art Vorreiterin, indem sie sich deutlich international öffnet. So erhielt ich auch die Gastprofessur. Für mich war das insgesamt eine wertvolle Erfahrung. Fremde Kulturen wirken wie neue Theorien. Sie holen einen aus der eigenen Komfortzone heraus und ermöglichen einen frischen Blick auf die Welt.
Und wie fällt Ihr Fazit aus, Frau Völler?
Michaele Völler: Es ist gerade sehr bequem, über die Amis zu lachen und zu schimpfen. Aber ich sehe viele Dinge jetzt aus einem differenzierteren Blickwinkel, ob es dabei um Kritik und Gemeinschaftssinn geht oder um die Wahl zum US-Präsidenten. Insofern habe ich noch einmal festgestellt, wie wichtig ein Auslandssemester ist. Für Studierende wie Lehrende gleichermaßen. Und weil ich mein Englischniveau gerne beibehalten will, werde ich jetzt eine Vorlesung auf Englisch halten. Das wird zwar anstrengend, aber für die Studierenden und mich sicher eine gute Sache.
Dr. Christian Rennert ist Professor für Unternehmensführung sowie Prodekan für Praxiskontakte und internationale Beziehungen an der Fakultät für Wirtschafts- und Rechtswissenschaften. Zum Thema Unternehmensführung und Ethik war er Gastprofessor im Summer School Program an der University of Seoul in Südkorea.
Dr. Michaele Völler ist Professorin für Unternehmensführung am Institut für Versicherungswesen (ivwKöln) und absolvierte ein Forschungssemester an der University of North Florida in Jacksonville. Die UNF ist Partnerin im gemeinsamen internationalen Masterstudiengang Internationales Management und Interkulturelle Kommunikation (Global MBA).
Interview: Monika Probst
Juni 2017