Exitstrategie für Menschen in Pflegeheimen und Einrichtungen der Behindertenhilfe

Prof. Dr. Julia Zinsmeister (Bild: Julia Zinsmeister)

Interview mit Prof. Dr. Julia Zinsmeister: Sie ist Mitglied in der von Gesundheitsminister Laumann einberufenen interdisziplinären ExpertInnenkommission, die für die Landesregierung NRW eine Exitstrategie für Menschen in Pflegeheimen und Einrichtungen der Behindertenhilfe entwickelt hat.

Wie hart haben Lock-down und Kontaktsperre Menschen in Pflegeheimen und Einrichtungen der Behindertenhilfe getroffen?

Ungleich härter als die meisten Menschen außerhalb von Einrichtungen.  Die noch geltenden Schutzverordnungen der Länder sehen für die Bewohner*innen ja nicht nur Abstandsregeln vor. Besuche in Einrichtungen sowie der zielgerichtete Kontakt mit Angehörigen und Freund*innen außerhalb der Einrichtungen sind - von wenigen Härtefällen abgesehen – verboten. In NRW zumindest noch bis 9. Mai.

Menschen, die in Heimen leben, können diese wegfallenden Kontakte zumeist auch nicht für begrenzte Zeit virtuell kompensieren. Einige finden persönlich keinen Zugang mehr zu digitalen Medien, in den meisten Einrichtungen – selbst jenen für junge Menschen - fehlt es aber noch ganz grundlegend an ausreichender technischer Infrastruktur und an Medienkompetenz.

Die soziale Isolierung wurde dabei zunehmend gefährlich. Heimleiter*innen und –mitarbeiter*innen berichteten uns, dass eine wachsende Zahl von Bewohner*innen unter Apathie, Depressionen, Aggressionen und Suizidgedanken leidet. Menschen sterben, ohne sich von ihren Angehörigen verabschieden zu können. Das trifft auch die Angehörigen schwer.

Sind die scharfen Freiheitsbeschränkungen für Menschen in Heimen gerechtfertigt?

Freilich müssen die Freiheitsbeschränkungen vor dem Hintergrund des hohen Infektionsrisikos gesehen werden: Rund ein Drittel derjenigen, die an COVID-19 gestorben sind, lebten in Heimen. Die Gefahr der nosokomialen Übertragung in der Pflege und einer Clusterbildung im Heimen war jedoch bereits vor COVID-19 hinlänglich bekannt, auch Influenza und MRSA verbreiten sich dort in Windeseile. Dennoch fanden die ambulante und stationäre Pflege in der staatlichen Pandemieplanung auch bei Beginn der Ausbreitung von SARS-CoV-2 wenig Berücksichtigung. Der Krisenstab des Bundes ließ anfänglich Desinfektionsmittel und Schutzausrüstung für Arztpraxen, Krankenhäuser und Bundesbehörden beschaffen, nicht aber für die Bereiche, in denen die Bevölkerung als erstes geschützt werden müsste, um nicht in die Krankenhäuser zu kommen: Menschen mit Atemwegserkrankungen und in ambulanten und stationären Pflegesettings. Solange es an Schutzvorkehrungen fehlte, blieben die Freiheitsbeschränkungen dann auch das einzige Mittel, um einen Mindestschutz zu gewährleisten. Kein besonders wirksames Mittel allerdings, denn es werden zwar die Bewohner*innen isoliert, aber die mit ihrer Pflege und Alltagsbegleitung beschäftigten Mitarbeitenden steigen jeden Tag nach getaner Arbeit in Bus und Bahn, gehen im Supermarkt einkaufen und nach Hause zu ihren Familien und befürchten jeden Morgen aufs neue, das Virus in die Einrichtung einzutragen.

Gerade in der Diskussion um Lockerungen konnte man den Eindruck gewinnen, besonders vulnerable Gruppen hätten zunächst hintanzustehen hinter ökonomischen Fragestellungen. Täuscht dies?

Das Leben hinter den Mauern der Sondereinrichtungen ist immer der öffentlichen Wahrnehmung entzogen. Das trägt sicher noch stärker zur Ausgrenzung der dort lebenden pflegebedürftigen und behinderten Menschen bei - auch in der Diskussion gesellschaftlicher Exit-Strategien.

Die ökonomischen Auswirkungen der Pandemie sind aber natürlich für die gesamte Bevölkerung relevant. Es wird prognostiziert, dass die negativen Folgen nicht nur gegenwärtig, sondern auch langfristig vor allem Menschen mit niedrigem sozialen Status und geringen Ressourcen treffen. Dazu zählen viele Menschen mit Behinderungen und Menschen im Alter. Ökonomische Fragestellungen sind für sie also von durchaus großer Bedeutung – sofern die richtigen Fragen gestellt werden: Wie kann verhindert werden, dass die Coronakrise soziale Ungleichheit weiter verschärft?  Inwieweit hat die Ökonomisierung des Gesundheitssektors und der Sozialen Arbeit zu den aktuellen Schutz- und Versorgungdefiziten in der Pflege und in der Unterstützung behinderter Menschen beigetragen? Die Pandemie hat die „Systemrelevanz“ der Care Arbeit nochmals deutlich vor Augen geführt und den Forderungen nach angemessenen Arbeitsbedingungen und leistungsgerechter Entlohnung Nachdruck verschafft. Die volkswirtschaftliche Bedeutung dieser Forderung lässt sich nicht nur an dem wachsenden Anteil pflegebedürftiger und behinderter Menschen in der Bevölkerung, sondern auch im Vergleich der Beschäftigtenzahlen in den verschiedenen Branchen verdeutlichen: Die Autoindustrie beschäftigt in der KFZ-Herstellung in Deutschland gegenwärtig noch rund 950.000 Personen, Heime hingegen bereits über eine Million. Im Gesundheits- und Sozialwesen sind rund 5 Millionen Menschen beschäftigt, rechnet man den Bereich Erziehung und Bildung hinzu, sprechen wir sogar von 6,5 Millionen Arbeitsplätzen.

Wie ist das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS) mit den Empfehlungen der Expert*innenkommission umgegangen?

Gesundheitsminister Laumann hat bereits früh deutlich gemacht, dass die soziale Isolierung von Menschen in Heimen kein probates Mittel ist. Mit Prof. Dr. Markus Zimmermann von der HSG Bochum hat das MAGS Anfang April bewusst keinen Mediziner, sondern einen Pflegewissenschaftler mit der Bildung der Kommission und der Entwicklung der Handlungsstrategien beauftragt. Unser Auftrag als Kommission war es, im interdisziplinären Austausch Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, die sowohl dem Risiko von Neuinfektionen als auch der psychosozialen Situation der Bewohner*innen und ihrer Angehörigen Rechnung tragen. Die Frage, wie der Infektionsschutz in ein angemessenen Verhältnis zu den Freiheits- und Persönlichkeitsrechten der Bewohner*innen, ihrem Schutz vor Diskriminierung und dem Schutz ihrer Familien durch Art.6 GG gesetzt werden kann, haben wir eingehend - punktuell auch durchaus kontrovers - diskutiert.

Das MAGS hat unsere Empfehlungen sehr weitreichend und vor allem sehr schnell umgesetzt. Bereits diesen Sonntag müssen Besuche wieder ermöglicht werden – natürlich unter Sicherheitsvorkehrungen.

Sind die Einrichtungen, Alten- und Pflegeheime, Werkstätten und Wohnheime auch personell und materiell genug gerüstet, um die Maßnahmen im Alltag umsetzen zu können?

Nein. Die Umsetzung der vom Robert Koch-Institut und uns empfohlenen Sicherheitsvorkehrungen erfordern eine ausreichende Ausstattung der Mitarbeitenden, Bewohner*innen und Besucher*innen mit Schutzkleidung und anderen -materialien, ihre regelmäßige Testung, die Einrichtung von räumlich getrennten Besuchsbereichen (z.B. Besuchszelte) und zusätzliche personelle Ressourcen, um die strengen Hygienevorgaben einhalten und die Bewohner*innen und Besucher*innen beim Anlegen der Schutzkleidung und –masken unterstützen zu können.

Gegenwärtig gestaltet sich die Ausstattung der Einrichtungen und Dienste mit Schutzmaterialien und –vorrichtungen sehr unterschiedlich. In der stationären Versorgung alter Menschen scheint es erhebliche Unterschiede zu geben. Während einzelne Träger längst Besuchscontainer aufgestellt haben und Besuche ermöglichen, beklagen andere Einrichtungen noch den Mangel an Schutzmasken. Obwohl Pandemiegefahren in allen Pflegeeinrichtung gegenwärtig sein sollten, traf die Krise einige Einrichtungen wohl gänzlich unvorbereitet. Menschen mit Behinderungen und die ambulanten Versorgungsstrukturen wurden bei der Versorgung mit Schutzmaterialien viele Wochen lang vollständig übersehen. Diese materiellen Engpässe lassen sich – ggf. mit öffentlichen Zuschüssen – zeitnah beheben. Die personellen Engpässe hingegen nicht.

In der Sozialen Arbeit und Pflege herrscht seit langem ein akuter Mangel an Fachpersonal. Es handelt sich um traditionell feminisierte Tätigkeiten, die auch aus diesem Grund gering entlohnt und semiprofessionell etikettiert werden. Hier zeigt sich seit langem Handlungsbedarf.

Durch die Besuchssperren ist nun mehrere Wochen auch die Unterstützung, die viele Angehörige leisteten, ersatzlos weggefallen. Die Mitarbeitenden sind überarbeitet, viele erkrankt bzw. in Quarantäne. In vielen Einrichtungen herrscht massive Unterversorgung. Dr. Nicklas-Faust, die Geschäftsführerin der Bundesvereinigung der Lebenshilfe berichtete von einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen, in denen aktuell alle Mitarbeitenden erkrankt oder aus anderen Gründen ausgefallen sind und darum die Belegschaft eines anderen Trägers einsprang, um die Versorgung der Bewohner*innen sicherzustellen.

Wie sollte weitere (konkrete) Unterstützung aussehen?

Hier muss zwischen kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen unterschieden werden.

Kurzfristig müssen die Sozialleistungsträger, ggf. mit finanzieller Unterstützung des Bundes und der Länder sicherstellen, dass die Einrichtungen aber auch ambulante Versorgungsstrukturen mit ausreichend Schutzmaterialien und –vorrichtungen ausgestattet werden. Die Bewohner*innen müssen – auch in leichter Sprache – besser informiert und das Fachpersonal im Hygieneschutz fortlaufend qualifiziert werden.

Der Personalmangel lässt sich freilich kurzfristig nicht beheben. Der Versuch, nun in der Krise verstärkt Bürger*innen für das ehrenamtliche Engagement in den Einrichtungen zu gewinnen, ist ein Ausdruck von Hilflosigkeit.

Die Krise hat auch strukturelle Defizite zu Tage gefördert. Dazu gehören nicht nur die wachsenden Versorgungslücken im Gesundheits- und Sozialwesen.  Als Rechtswissenschaftlerin hat mir die Krise auch vor Augen geführt, was alte Menschen und Menschen mit Behinderungen tatsächlich zu vulnerablen Gruppen macht: Epidemiologisch betrachtet zählen viele von ihnen ja gar nicht zum Kreis der Hoch-Risiko-Patient*innen. Sie sind weder multimorbide noch atemwegserkrankt.

Menschen mit Behinderungen und im Alter werden aber schneller ihr Rechte abgesprochen und entzogen. Sie müssen befürchten, dass ihr Leben in Triage-Entscheidungen als weniger erhaltenswert eingestuft wird als das jüngerer und nicht behinderter Menschen. Ihre Freiheitsrechte werden weitreichender beschnitten, sie werden pauschal zu Hochrisikogruppen erklärt und darum zurzeit teilweise nicht zur Behandlung an- und aufgenommen und sie werden sozial noch stärker isoliert als andere Bevölkerungsgruppen. Sie sind somit nicht nur auf Solidarität angewiesen, sondern auch auf wirkungsvollen Rechtsschutz. Dazu zählt auch die freie Wahl, ob ich mich als Mensch mit Pflege- und Assistenzbedarf in der eigenen Wohnung unterstützen lassen oder in ein Heim ziehen will. Die aktuelle Situation belegt nochmals mehr, dass Heime keine sicheren Orte sind.

Mai 2020

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