Energiesicherheit und Nachhaltigkeitsstrategie in Deutschland

Industrieanlage bei Nacht (Bild: Andre Bonn / AdobeStock)

Jahrzehntelang schien die Gasversorgung in Deutschland krisenfest. Doch der Krieg in der Ukraine hat alte Gewissheiten zerstört. Prof. Dr. Ridwan D. Rusli vom Schmalenbach Institut für Wirtschaftswissenschaften spricht über die Fehler der Vergangenheit und Zukunftsperspektiven auf dem Weg zur Nachhaltigkeit.

Prof. Rusli, Energiepolitik und -sicherheit sind im letzten halben Jahr zu beherrschenden Themen in der politischen Diskussion geworden. Wie ist die Ausgangslage für Deutschland?

Weil wir nur wenige eigene Energieressourcen haben, ist Deutschland immer schon abhängig von Importen gewesen. Und die Politik hat – trotz vieler Warnungen – nicht verhindert, dass unsere Liefersicherheit stark von einigen wenigen Ländern abhängig ist. Mit Russland fällt unsere wichtigste Bezugsquelle für Gas teilweise aus und langfristige Energiesicherheitsüberlegungen werden unsere Energiepolitik dauerhaft verändern. Vor allem in Hinblick auf unseren geplanten Ausstieg aus Kohle- und Kernkraft hätten wir viel früher schon unsere Gasimportquellen diversifizieren müssen. Deutschland hat zwar gute Fortschritte beim Ausbau von erneuerbaren Energie- und Stromquellen erzielt, diese erforderten jedoch höhere Umlagen und Subventionen. Zudem ist der Zuwachs an erneuerbaren Stromkapazitäten sowie nachhaltigen Energiequellen und -technologien nicht schnell genug verlaufen. Darum haben wir jetzt eine schlimmere Energiekrise.

Was können wir tun?

Kurzfristig hilft uns nur, Energie zu sparen und die Energiespeicher zu füllen. Leider sinkt der private Gasverbrauch bisher nur wenig und eher durch die milde Witterung. Dafür sind wir bei den Gasspeichern auf einem guten Weg mit einem Füllstand von über 95 Prozent, was allerdings nur einem Viertel des Jahresbedarfs entspricht.

Mittelfristig braucht Deutschland eine viel breitere Diversifizierung seiner Lieferantenbasis und damit eine erhöhte wirtschaftliche Resilienz. Das wird allerdings dauern. Die Regierung führt jetzt Gespräche über Langzeitlieferverträge und den Transport von Flüssigerdgas (LNG). Diese kommen aber erst mehreren Jahren wirklich bei uns an. Denn die Vertragsverhandlungen benötigen oft Jahre. Erst wenn Deutschland eine langfristige Abnahme garantiert, wird man in den Herkunftsländern neue Produktionskapazitäten aufbauen. Parallel müssten in Deutschland Anlagen gebaut werden, die aus Flüssig- wieder Erdgas machen. Angesichts der bürokratischen Prozesse wird es, abgesehen von zwischenzeitlichen Anmietungen von schwimmenden LNG-Terminalen und Spotmarktkäufen, einige Jahre dauern, bis Deutschland LNG direkt aufnehmen kann.

Neben weiteren Bezugsquellen für fossile Energie muss die Energiewende also massiv vorangetrieben werden – Wind- und Sonnenenergie sind vermutlich der wichtigste Aspekt einer diversifizierten Energieversorgung für Deutschland. Bis es soweit ist, werden wir realistisch sein müssen und kurzfristig leider einige Kern- und sogar Kohlekraftwerke etwas länger in Betrieb lassen. Langfristig muss unser Ziel die vollständige Dekarbonisierung unserer Industrie sein – durch nachhaltige Energiequellen, optimierte Produktionsprozesse, Technologien zur Abscheidung und Speicherung von CO2 sowie Entwicklung von Wasserstofftechnologien und -infrastruktur.

Zudem sollten wir unser Geschäftsmodell grundsätzlich überdenken. Deutschland hat jahrzehntelang mit relativ billigen Energieimporten inklusive Subventionen hochwertige Produkte hergestellt, in Exportmärkten abgesetzt und viel Wohlstand erzeugt. Dabei wurde der Effizienz gegenüber der langfristigen Wirtschaftsresilienz stets den Vorrang eingeräumt. Den Preis dafür zahlen wir nun nachträglich. Wir müssen unsere Energie- und Rohstoffquellen und Absatzmärkte stärker diversifizieren, und den Produktionsstandort Deutschland strategisch fördern.

Was hindert uns an einer schnelleren Umsetzung?

Deutschland hat zurecht keinen guten Ruf bei öffentlichen Projekten. Die Dauer- und Kostenüberschreitungen beim Bau von öffentlichen Infrastruktur- und Kultureinrichtungen sind – für eines der weltweit erfolgreichsten Industrienationen – beschämend. Es ist ein riesiges Problem, dass es vom politischen Entscheidungsprozess, über die Genehmigung bis zur Fertigstellung und Inbetriebnahme, zum Beispiel von neuen Windkraftanlagen, bis zu zehn Jahre dauert. Dies muss auf drei bis fünf Jahre beschleunigt werden.

Ein akuter Versuch, die Energiesicherheit zu garantieren, war die Übernahme von Uniper. Wie beurteilen Sie diesen Schritt?

Uniper hat im Gasgeschäft einen so hohen Marktanteil, dass es leider in die Kategorie „too big to fail“ fällt. Deshalb war die staatliche Übernahme notwendig und unvermeidbar. Über die Übernahmekonditionen und den Preis könnte man debattieren. Aber solche Rettungspaket- beziehungsweise Übernahmeverhandlungen sind nicht leicht, vor allem wenn ein Geschäftspartner – oft ist es die Regierung –  mit dem Rücken an der Wand steht. Viel wichtiger ist, dass das Wirtschaftsministerium so schnell wie möglich über eine Exit-Strategie nachdenkt, wie beispielsweise bei der Lufthansa. Denn es ist nicht gut, wenn die öffentliche Hand Unternehmen leitet – dies korreliert mit der schlechteren Performance vieler Firmen unter öffentlicher Aufsicht.

Die hohen Energiepreise könnten in diesem Winter den sozialen Frieden gefährden. Wie kann die Politik dem entgegenwirken?

Wir müssen den am stärksten betroffenen Menschen helfen. Richtig wären gezielte Subventionen für die finanziell Schwächsten ohne Gießkannenprinzip. Wohlhabendere Einkommensgruppen sollten davon nicht profitieren. Denn die hohen Preise sind der beste Anreiz, um die Menschen zum Energiesparen zu bewegen. Die Politik sollte auch versuchen, Gas- und Strompreisdeckel oder Kraftstoff- und Energiesteuererleichterungen nicht als alleinige Lösungen einzusetzen. Energiesparinvestitionen und nachhaltige Energietechnologien sollen stärker gefördert werden, und zwar stets im gesunden Marktwettbewerb.

Um zusammenzufassen: Umwelt und Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit – auch für künftige Generationen – sowie Wirtschaftsresilienz und Wachstumsziele müssen gleichberechtigt avisiert werden.

November 2022

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