Ein sicherer Ort für alle
Bibliotheken sind Orte der Vielfalt, an denen Ausgrenzung keinen Platz haben soll – und doch stattfindet. Studierende am Institut für Informationswissenschaft haben Online-Kurse entwickelt, in denen MitarbeiterInnen von Bibliotheken lernen können, wie sie Rassismus, Antisemitismus oder Sexismus erkennen und aktiv begegnen. Ein solcher Kurs wird im März wieder angeboten.
Bibliotheken sind die meistbesuchten Kulturinstitutionen. Besucherinnen und Besucher, aber auch die angebotenen Medien bilden die ganze Vielfalt der Kulturen, Religionen und politischen Systeme ab. Bibliotheken bedienen ein kontinuierlich hohes Interesse an Kommunikation, Austausch, Aufenthalt und (Weiter-)Bildung. Man könnte denken: In Bibliotheken haben Rassismus, Sexismus und andere Phänomene, die sich als „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ sehr griffig zusammenfassen lassen, überhaupt keinen Platz. Und doch gibt es all dies natürlich auch hier, ob nun in öffentlichen oder wissenschaftlichen Bibliotheken. Rassismus in Äußerungen von Nutzerinnen und Nutzern, Sexismus womöglich innerhalb des Kollegiums, Homophobie in Social-Media-Kommentaren. All das kommt vor, im praktischen Alltag wie in Literatur, Musik und anderen Bereichen. Teils absichtlich, teils aus Unwissenheit und Unsicherheit.
„Miteinander reden, Teil 2: Demokratiearbeit erfolgreich gestalten“
Vom 1. bis 3. März findet ein weiterer Online-Kurs statt, an dem einige der Studierenden aus der er ersten Auflage beteiligt sind.
Ein Ort, an dem alle willkommen sind
Bibliotheken aber wollen Safe Spaces sein: Räume, an denen sich alle sicher und willkommen fühlen können. Die Fragen, die sich daraus ergeben, formuliert Prof. Dr. Tom Becker, Professor für Medienmanagement und Medienvermittlung in Bibliotheken am Institut für Informationswissenschaft, so: „Wie können wir bewusste oder unbewusste Diskriminierungshandlungen vermeiden und erkennen, wie diesen viel mehr noch off ensiv begegnen? Wie können wir Diskriminierungserfahrungen transparent einfordern, um aus diesen individuellen Erlebnissen – die nicht gern geäußert werden – zu lernen?“
Mit diesen Fragen beschäftigte sich seit Sommer 2020 eine Projektgruppe unter Leitung von Prof. Becker. Das Ziel: Studierende des Studiengangs Bibliothek und digitale Kommunikation sollten Online-Kurse entwickeln, in denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Bibliotheken Anregungen erhalten, die sie mit vertretbarem Aufwand in der Praxis umsetzen können. Die Gruppe nutzte als Basis dafür zum einen Diskussionsformate, die Studierende schon im Jahr zuvor für den "Tag der offenen Gesellschaft" entwickelt hatten, zum anderen Bausteine aus der "… begegnen!"-Reihe, mit der die Bundeszentrale für politische Bildung Menschen auf den Umgang mit menschenfeindlichen Aussagen und Handlungen vorbereiten will.
Veränderung ist eine Frage der Haltung
Ergebnis des Projektes sind drei Online-Kurse mit jeweils zweimal 90-minütigen Einheiten: „Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit begegnen“, „Rassismus begegnen“ und „Sexismus und Homophobie begegnen“. Für alle drei Themen gilt gleichermaßen: Die Institution muss nach außen Haltung zeigen, aber damit ist es nicht getan. „Es geht zwar auch um sichtbare Veränderungen für die Besucherinnen und Besucher – von der Regenbogenflagge an der Türe bis zu Diskussionsveranstaltungen –, aber erstmal ist es eine Frage der Haltung und der Sensibilisierung und des sich ständig Bewusstmachens“, sagt Becker. Weiterbildungen wie die von den Studierenden entwickelten Webinare können seiner Ansicht nach nur ein Anstoß sein. Grundsätzlich müsse jeder Träger von Bibliotheken, ob Hochschule, Kommune oder andere Institutionen, das Thema als Querschnittsaufgabe sehen.
Nach Einschätzung von Becker haben die Online-Kurse einen ganz besonderen Vorzug offenbart. „Seminare gerade auch in kleinerem Kreis geben Sicherheit, über die komplexen Felder wie Diskriminierung und Rassismus miteinander reden und da auch Fehler machen zu können – es herrscht eine große Unsicherheit darüber, was wie angesprochen werden kann und welche Verhaltensweisen als Diskriminierung aufgefasst werden können.“
Über Kommunikation und Sensibilisierung hinaus zeigten sich in der Projektarbeit durchaus auch einige konkrete Handlungsempfehlungen für den Alltag, etwa im Bereich Sexismus und Homophobie. Im direkten Kontakt gebe es beispielsweise die Möglichkeit, Widersprüchlichkeiten aufzuzeigen, Fakten einzufordern, Gegenbeispiele zu nennen, letztlich: das Gegenüber zu irritieren, allerdings immer in ruhiger, sachlicher und freundlich-zugewandter Form.
Tag der offenen Gesellschaft
Zum Tag der offenen Gesellschaft am 19. Juni wollen Bibliotheken und Buchhandlungen Tische auf die Straße stellen und ein gemeinsames Zeichen für Demokratie und Vielfalt setzen.
Emanzipation und Teilhabe als Leitlinie
Für all dies sind von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bibliotheken ausgewiesene Kompetenzen gefragt: kommunikative Offenheit, Gespür für kritische Situationen, nicht zuletzt auch politisches Bewusstsein. Diese Aspekte sind schon Teil der vor drei Jahren durchgeführten Reform des Studiengangs gewesen und werden in entsprechende Seminarangebote umgesetzt. Für Professor Becker knüpfen Bibliotheken hier an eine zentrale Tradition an: „Das Recht auf freien Zugang zu Information für alle ist gerade in einer so niedrigschwelligen Institution wie der Bibliothek immer von großer Bedeutung gewesen. Emanzipation und Teilhabe waren schon den Arbeiterlesesälen, in denen sie ihren Ursprung haben, die Leitlinie. Jetzt wird diese Linie – anders konnotiert – wieder sichtbar.“ Das Thema wird im Sommersemester 2021 fortgeführt – hier werden dann Planspiele entwickelt, und in einer anderen Lehrveranstaltung begleiten Studierende den Tag der offenen Gesellschaft aktiv mit eigenen Formaten.
Text: Werner Grosch
Februar 2021