Ein neues Bewusstsein für Gesundheit
Fehlzeiten auf Höchststand: Laut aktuellen Statistiken der Krankenkassen gab es 2023 in Deutschland so viele Krankmeldungen bei der Arbeit wie nie zuvor. Dr. Dr. Carolin Palmer, Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie am Institute for Business Administration and Leadership, spricht im Interview über die Gründe und erläutert, warum sich das Verständnis von Gesundheit ändern muss.
Prof. Palmer, wie erklären Sie sich die vermehrten krankheitsbedingten Fehlzeiten?
Dafür gibt es wahrscheinlich verschiedene Ursachen. Erstens könnte der Anstieg auf eine tatsächliche Zunahme der Anzahl kranker Menschen zurückzuführen sein. Insbesondere Erkrankungen mit psychischer Ursache oder belastungsbedingten Auslösern treten häufiger auf, womöglich durch die Belastungen der Corona-Pandemie, wirtschaftliche Unsicherheiten, Kriege und andere globale Krisen. Es könnte aber auch daran liegen, dass durch die zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz psychischer Erkrankungen, diese auch häufiger diagnostiziert werden. Nicht zuletzt hat die Anzahl der Krankschreibungen aufgrund von Atemwegserkrankungen deutlich zugenommen. Das ist neben parallelen Infektionswellen mit unterschiedlichen Erregern vor allem darauf zurückzuführen, dass diese während der Pandemie aufgrund der Abstands- und Hygieneregeln zurückgegangen sind. Insofern ist dieser Anstieg erst einmal nicht überraschend.
Zweitens spielt auch die psychologische Seite eine Rolle: Tendenziell lassen sich Beschäftigte heute eher krankschreiben, wenn sie wirklich krank sind. Das liegt an veränderten Einstellungen zur Work-Life-Balance und an einem gesteigerten Resilienzbewusstsein. Die arbeitsverklärende Sicht, dass gute Arbeitnehmer*innen auch krank noch etwas leisten, bröckelt langsam – und das ist gut so!
Was bedeutet der hohe Krankenstand für Unternehmen?
Natürlich beeinträchtigt ein erhöhter Krankenstand die Produktivität und Effizienz von Unternehmen, da Arbeitnehmer*innen fehlen und Arbeiten sowie Projekte möglicherweise verzögert werden. Die verbleibenden Mitarbeitenden werden durch die Ausfälle häufig zusätzlich belastet, da sie weitere Aufgaben übernehmen müssen. Dies kann zu einer allgemeinen Verschlechterung des Arbeitsklimas sowie zu Stress und Überlastung führen – und damit möglicherweise zu weiteren Krankmeldungen. Deshalb ist es sowohl für den Unternehmenserfolg als auch für die Mitarbeitenden wichtig, dass Firmen vorausschauend Maßnahmen ergreifen.
Welche Maßnahmen können das sein?
In erster Linie ist die Einhaltung des Arbeitsschutzes, beispielsweise bezüglich Ruhezeiten oder Ergonomie am Arbeitsplatz, essentiell, wenn nicht sogar gesetzlich geregelt. Darüber hinaus helfen viele Kleinigkeiten: Maßnahmen zur Gesundheitsförderung in Form von Aufklärung und Beratung; nicht nur das Einbeziehen physischer, sondern auch psychosozialer Aspekte in das Verständnis von Arbeitssicherheit; ausgewogenes Essen in der Kantine oder Mensa; eindeutige Vertretungsregeln, die angeschlagenen Arbeitnehmer*innen eine Krankmeldung erleichtern und mit denen Ausfälle besser aufgefangen werden können; oder ein bewusstes Monitoring mit Blick auf individuelle Belastungssituationen, etwa von Eltern mit kranken Kindern, selbstorganisiert Pflegenden oder Arbeitnehmer*innen mit langer Anfahrt zur Arbeit. Daneben braucht es aber auch einen anderen Blick auf Gesundheit und Krankheit.
Was meinen Sie damit?
Diese Begriffe müssen neu betrachtet werden, da bisherige Ansätze oft zu kurz greifen. Traditionell liegt der Fokus auf der Vermeidung von Krankheiten, indem Gefahren reduziert werden. Die Betrachtung von Gesundheit beschränkt sich so lediglich auf die Abwesenheit von Krankheitssymptomen. Dabei sollte Gesundheit auch die Fähigkeiten beinhalten, sich an die normalen Belastungen des Lebens anzupassen und sich auf seine sozialen, beruflichen und persönlichen Ziele zu fokussieren. Es gilt also, nicht nur Krankheiten zu vermeiden, sondern die Resilienz zu stärken. Diese Denkweise sollte in Unternehmen fester verankert werden.
Wie kann das gelingen?
Auf direktem Weg über die Führungskräfte. Diese sollten die Bedürfnisse und individuellen Belastungen ihrer Mitarbeitenden ernst nehmen, im Blick haben und eine unterstützende Unternehmenskultur schaffen. Ein dialogorientierter Ansatz, der auf Kommunikation und Transparenz setzt, kann das Bewusstsein für Gesundheit fördern. Zudem sollten Führungskräfte für ihre Vorbildfunktion sensibilisiert werden. Auch als Chef*in muss man nicht krank zur Arbeit gehen. Auf indirektem Weg kann der zunehmende Wettbewerb um Arbeitskräfte zu einem neuen Verständnis von Gesundheit führen. Setzen sich Unternehmen damit nicht auseinander, führen keine entsprechenden Maßnahmen durch und leben somit eine tendenziell ungesunde Arbeitskultur, wird es irgendwann schwierig, qualifizierte Mitarbeitende zu halten oder zu finden.
Februar 2024