Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften

Campus Südstadt
Ubierring 48, 50678 Köln

Prof. Dr. Andrea Platte

Prof. Dr. Andrea Platte

Angewandte Sozialwissenschaften
Institut für Kindheit, Jugend, Familie und Erwachsene (KJFE)

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Die Freiheit des Lernens in der Gemeinschaft erleben

Studiendekanin Prof. Dr. Andrea Platte fordert in ihrer Begrüßung der neuen Studierenden an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften dazu auf, trotz und gerade wegen des außergewöhnlichen Starts, die Freiheit des Studierens in der kritischen Auseinandersetzung mit Inhalt und Struktur des Studiums in der Gemeinschaft mit Kommiliton*innen und Lehrenden zu erleben und zu gestalten.

Prof. Dr. Andrea Platte Erstsemesterbergüßung

Liebe Studierende an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der TH Köln …

wahrscheinlich werden die meisten von Ihnen heute erstmals so angesprochen, und als solche begrüße ich Sie herzlich im Namen der Fakultät. Ich habe auch bekannte Gesichter gesehen – B.A.-Absolvent*innen, neue Master-Studierende.

Ich bin Andrea Platte und an dieser Fakultät Studiendekanin, d. h. ich bin, gemeinsam mit den Leitungen der einzelnen Studiengänge, dafür verantwortlich, dass Sie hier möglichst angemessen und mit einem Anspruch, der Wissenschaftlichkeit und Praxis gerecht wird, studieren können. Ich bin zugleich auch Professorin, meine Professur trägt den Titel „Bildungsdidaktik“ und ich lehre in Erziehungswissenschaften und vor allem dort, wo es um Didaktik geht.

Sie sind an der größten Fachhochschule Deutschlands mit 25.500 Studierenden, im letzten Jahr 5.500 Erstsemester (neue Zahlen habe ich noch nicht). 4.700 begannen im letzten Wintersemester ein B.A.- und 800 ein M.A.-Studium. Der beliebteste und größte B.A.-Studiengang ist der BASA mit 6.600 Bewerbungen auf 305 Plätze.

Ich möchte Sie mit einem Zitat von Oskar Negt auf Ihr Studium einstimmen. Er ist Sozialphilosoph, 1934 geboren, arbeitete immer eng mit den Gewerkschaften zusammen und hat sich auch in Diskussionen um Bildung eingebracht. Ich möchte Ihnen einen Satz aus seiner Biografie vorlesen:

„Ich kann schwer beschreiben, welche Glücksgefühle ich in der Zeit nach dem Abschluss der Schule mit der Neugierde und dem Lernen verband. Beim ersten Betreten des Göttinger Hörsaals suchte ich noch den Aufpasser, der den Zugang kontrollierte; ich fand keinen. Ich setzte mich in die letzte Reihe […]. Meine Gedanken kreisten um das Gefühl der Freiheit – niemand wird neben dir stehen und fragen; Was hast du davon verstanden? Was hast du mitgeschrieben? Kannst du das wiedergeben? Erst da empfand ich die Freiheit des Lernens – fast schon körperlich. Das ist wirklich die Freiheit des Lernens, dachte ich.“

Diese Sätze zu lesen, haben mir zu denken gegeben. Geht das Ihnen auch so? Ähnlich? Oder ganz anders? Freuen Sie sich auf und über die bevorstehende Freiheit des Studierens? Ich würde mich freuen, wenn Sie mit Glücksgefühlen und Neugierde im Blick auf das, was Sie hier erwartet, was Sie hier studieren können, hier antreten, schauen können … Nun habe ich dreimal „hier“ gesagt – und mir fällt auf: Wo ist dieses HIER? – Als ich Negt las, war für mich das HIER noch klar definiert … Den Aufpasser, der den Zugang kontrolliert, hätte Negt heute gefunden … Er war glücklich, dass er keinen fand. Er setzte sich in die letzte Reihe … auch das können Sie heute gar nicht lenken, ich weiß nicht einmal, ob die Reihenfolge der vielen Bildchen auf Ihrem Bildschirm anders angeordnet ist als auf meinem.

Aufgrund dieser Besonderheiten, das muss ich ehrlich sagen, begrüße ich Sie heute mit einem besonderen Mitgefühl. Einige von Ihnen haben wahrscheinlich auch das Abitur in diesem Jahr gemacht, unter anderen Bedingungen als erwartet und vielleicht mussten Sie auch andere Pläne in diesem Jahr ändern. Nun treffen wir uns nicht zum ersten Vorgeschmack auf die Vorlesungen in der Aula, Sie schlendern nicht mit den Kommiliton*innen über den Campus … Das tut mir schon wirklich leid, für Sie und für uns alle. Ich möchte aber darüber nicht lamentieren, sondern nach vorn schauen auf das, was Sie erwartet und ich würde mich freuen, wenn Sie sich auch, wie Oskar Negt, darauf freuen – und dem ähnliches abgewinnen würden:

Die FREIHEIT des Lernens körperlich empfinden – das mag schwer sein dadurch, dass Sie körperlich vielleicht dort sind, wo Sie immer sind, räumlich ändert sich heute nichts, aber vielleicht gibt es dennoch eine Vorfreude auf das Lernen, auf die Inhalte, auf das Studieren … Gern würde ich im Verlauf des Studiums mit Ihnen diskutieren, ob sich eingestellt hat, was Negt noch formuliert:

„[...] niemand wird neben dir stehen und fragen; Was hast du davon verstanden? Was hast du mitgeschrieben? Kannst du das wiedergeben? Erst da empfand ich die Freiheit des Lernens.“

Manchmal habe ich den Eindruck, diese Freiheit ist gar nicht so willkommen. Oft fragen Studierende sehr detailliert nach, ob sie richtig verstanden haben, ob und wie das ist, was ich oder Kolleg*innen wollen – und dann suche ich nach dieser Freiheit … Hat die Schule dazu geführt oder vielleicht auch unsere detailliert beschriebenen Modulhandbücher, das Versprechen auf ein Learning-outcome zum Abschluss eines Moduls, dass die Freiheit gar unerwünscht scheint … Und deswegen wünsche ich Ihnen heute zu Beginn: Trauen Sie sich – lassen Sie sich ein auf die Freiheit – vielleicht bedarf das einer Veränderung gegenüber der klaren Organisationsstruktur, die Sie von der Schule gewöhnt sind, vielleicht auch gegenüber den Strukturen in Ausbildung oder Beruf. Nehmen Sie von Ihrem ersten Zusammentreffen mit der Hochschule als Studierende mit, dass sie eigentlich ursprünglich von Freiheit gekennzeichnet ist. Finden Sie hier das, dem Sie sich aus freien Stücken widmen möchten, hier hat Sie niemand hingeschickt, das war in der Schule noch anders, Sie haben das gewählt … Finden Sie Themen, denen es Zeit zu schenken lohnt, mit denen Sie sich auseinandersetzen, an denen Sie sich „bilden“.

Freiheit in Bezug auf die Inhalte, auf das, was Sie studieren möchten, wie Sie Ihren Weg durch das Studium gestalten – bemühen Sie sich, in den Vorgaben das zu finden, was Sie interessiert.

Neben dem Begriff der Freiheit möchte ich Ihnen als zweiten Begriff den der Gemeinschaft mitgeben – zu einem Studium gehört, dass Sie Kommiliton*innen begegnen, Mitstreiter*innen und mit diesen gemeinsam wachsen, sich bilden an gemeinsamen Themen, Auseinandersetzungen, Aktivitäten. Dem scheinen die Bedingungen, unter denen wir heute antreten, vielleicht noch mehr zu widersprechen … Aber wenn das mit der Gemeinschaft digital schwierig ist – wir tun unser Bestes, dass Sie sie auch unter diesen Bedingungen finden können – können wir vielleicht auf den Begriff der Solidarität gehen – und hier zitiere ich einen weiteren Philosophen, der im letzten Jahrhundert allerdings schon gestorben ist, Max Horkheimer, der sagt – übrigens in einer Begrüßungsansprache an Studierende im Jahr 1954:

„Studieren – sich bilden ereignet sich in der Gemeinschaft mit anderen in Hingabe an eine gemeinsame Sache. An der Universität (Hochschule) studieren Sie nicht nur, sondern indem Sie mit anderen sowie mit Ihren Lehrern zusammenkommen, finden Sie sich in einer Gemeinschaft, die ja schon auf Bildung und damit auf Wahrheit, Freiheit und Humanität bezogen ist. Sie begegnen einem Kreis, dem es auf Dinge ankommt, die durch gemeinsamen Besitz nicht vermindert, sondern gesteigert werden, auf wesentliche Dinge, von denen nicht nur Ihr, sondern das Dasein der Gesamtheit abhängt.“

Die Hochschule ist ein Ort, an dem es solche Beziehungen zu finden, zu erproben und zu pflegen gelte, sagt er, um sie gleichsam exemplarisch nach außen – in die Welt zu tragen. Dabei geht es auch um Beteiligung an der Gestaltung dieser Hochschule selber – z. B. in der Studentischen Vertretung, in der Fachschaft, im ASTA, im Studienbeirat. Fragen Sie im Tutorium danach!

Gestalten Sie die Zeit, die vor Ihnen liegt, aktiv mit, trauen Sie sich, Fragen und Ansprüche einzubringen … Ich würde mich freuen, angeregt durch Oskar Negt und Max Horkheimer mit Ihnen einer Studienzeit entgegen zu sehen, in der Sie Belehrung weder erwarten noch erfahren – ich würde mich freuen, Fragen, Widerständen und Mitgestaltung zu begegnen, in denen Sie hier Spuren hinterlassen.

Ich kann stellvertretend sagen, dass wir uns freuen, dass Sie mit dem heutigen Tag dazu gehören – und ich wünsche Ihnen eine gute Studienzeit, in der Sie sich auf den von uns für Sie vorgeschlagenen Semesterplänen zurechtfinden, von diesen aber auch abzuweichen wagen. Denn ein Studienverlaufsplan kann nicht alle möglichen Wege und Inhalte abdecken, sondern fordert auch dazu auf, Wege durch ein Studium zu finden, die das angebotene Gerüst nutzen, in diesem aber auch Unvorhergesehenes wagen, Umwege, Nebenstrecken, Ausflüge, Pausen.

… lassen Sie uns dem Unvorhergesehenen mit größtmöglicher Freiheit und Solidarität begegnen!

Andrea Platte, am 02.11.2020

November 2020

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