Das Forum Inklusive Bildung zu Gast beim Forum Postmigrantische Perspektiven an der HS Niederrhein
Dokumentationen von Studierenden der BA-Studiengänge "Soziale Arbeit" und "Pädagogik der Kindheit und Familienbildung" an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften zu Fachvorträgen des Forums Postmigrantische Perspektiven der Hochschule Niederrhein am 11. und 18. November 2020.
„Ordnung-Macht-Bildung. Migrationspädagogische Sondierungen“ mit Prof. Dr. phil. Paul Mecheril
Ein Bericht von Ellen Flohr, BA Pädagogik der Kindheit und Familienbildung
„Gebildete Pädagog*innen [...] sind jene, die die Fraglichkeit ihrer Selbst zulassen können.“
Paul Mecheril im Forum Postmigrantische Perspektiven der Hochschule Niederrhein am 11. November 2020.
Paul Mecheril, Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Migration an der Universität Bielefeld. Vorstandsmitglied des Rats für Migration e.V.. Mitglied im wissenschaftlichen Beirat SchlaU - Werkstatt für Migrationspädagogik in München. Als Spezialist im wissenschaftlichen Bereich der Migrationspädagogik gilt Paul Mecherils Vortrag im Forum Postmigrantische Perspektiven der Hochschule Niederrhein am 11. November 2020 als namhafter Auftritt.
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Prof. Dr. Donja Amirpur leitet als eine der Veranstalter*innen des Forums die Vortragsreihe ein. Sie selbst hat eine Professur für Migrationspädagogik an der Hochschule Niederrhein inne. Amirpur findet besondere Worte in der Ankündigung von Mecheril, man hört ihr Bewunderung an. Der Vortrag wird per Videokonferenz veranstaltet, beinahe 350 Teilnehmer haben sich online dazu geschaltet. Darunter Studierende der Hochschule Niederrhein und der TH Köln, Mitarbeiter in Jugendämtern, Fachkräfte aus Kindertageseinrichtungen und Mitglieder sämtlicher Vereine, die der Antirassismusarbeit und der Intersektionalen Arbeit zuzuordnen sind.
Nach ihrer Einleitung gibt sie das Wort an Mecheril ab. Dieser startet per Bildschirmübertragung seine Präsentation. Es ist seine Zweite überhaupt – beeindruckend, denn dafür ist die Präsentation schon echt schick.
Unser Zeitalter, das Zeitalter der Migration, wie Paul Mecheril es bezeichnet, ist nicht das Erste in der Geschichte der Menschheit. Aber sicherlich eines, das die Aktualität von wissenschaftlichen und praktischen Bemühungen der Migrationspädagogik begründet. In seinem Vortrag beschreibt er Problemstellungen, die sich durch jenes Zeitalter quantifizieren: Ein Spannungsverhältnis zwischen der demokratischen, scheinbar universalistischen Ordnung und deren Bürger- und Menschenrechte in der westlichen, eurozentristischen Welt und der beinahe partikular feudalen Praxis dieser, deren Katalysator der Rassismus ist. Immer gerne stichelt er dabei zynisch in Richtung des strukturellen und institutionellen Rassismus innerhalb unseren demokratisch-sozialen Systems.
Er bewegt sich zwischen den „De-Privilegien und Privilegien verschiedener natio-ethno-kulturell Gruppen und des WIRs“, das universell gilt, aber diverse Gruppen aus diesem WIR ausgrenzt. Die pädagogische Maxime und sein Appell an die Praktiker, die ihm hier zuhören, ist das Ermöglichen der Ansprüche Anderer. Jener, die dem kollektiven WIR nicht zugehörig sind oder sich nicht zugehörig fühlen. Die
Abgrenzung dieses WIRs ergibt sich als gegeben aus dem modernen Rassismus als Institution, der durch unreflektiertes Reproduzieren und systematische Standards einer ungleichen Gesellschaft begünstigt wird. Moderner Rassismus fokussiert die Gefahr der Anderen und des Fremden als ein Hindernis der Professionalisierung der Pädagogik, das macht ihn zum Problem des pädagogischen Selbstverständnisses:
„Dazu braucht’s gebildete Pädagog*innen. (...) Gebildete Pädagog*innen - sowohl mehr mit Rassismus belangbare, als auch weniger mit Rassismus belangbare - sind jene, die die Fraglichkeit Ihrer Selbst zulassen können“, [sodass Selbst-, Welt- und Fremdbezüge kontinuierlich herstellbar bleiben.] Das ist die zentrale Aufgabe der pädagogischen Ausbildung.“ – Paul Mecheril, Bildungsverständnis hier nach Käthe Meyer-Drawe. In einer Kultur der souveränen Subjekte ist die eigene Fraglichkeit, also die Non-Souveränität, ein nötiger Schrit oder eine Voraussetzung für migrationsgesellschaftliche Pädagogik. Die Produktivität akademischer Ausbildung liegt also darin, die globale Ordnung zu kontextualisieren und die Angreifbarkeit der agierenden Systeme aufzudecken.
Im Anschluss an Mecherils Vortrag gab es eine Diskussionsrunde, sowohl in Kleingruppen als auch im Plenum. Die Kleingruppendiskussion wurde genutzt, um abschließende Fragen an Paul Mecheril zu formulieren.
Inhalte der anschließenden Diskussion und Fragerunde im Plenum waren die Begriffsklärung und die Positionierung Einzelner im Spektrum der postmigrantischen und der migrationsgesellschaftlichen Pädagogik. Die Argumentation, dass eine Absetzbewegung beobachtet werden kann, die unsere Gesellschaft in einem post-Stadium verorten ließe, wird durch Mecheril scharf kritisiert. Die scheinbare Vision derer sei nicht empirisch belegbar, sondern eine normative Darstellung, die dem bürgerlichen Milieu entspringe.
Mit Mecherils Problematisierung des Postmigrantischen Begriffs verweist zu Ende auch Donja Amirpur darauf, dass der Name des neuen Format, also des Forum Postmigrantischer Perspektiven der Hochschule Niederrhein, dann „wohl nochmal diskutiert werden könnte“. Und genau diese Diskussion ist eine, die die Migrationspädagogik und das Forum in Zukunft immer weiter führen wird.
Auf die Frage nach Strategien, die Schwierigkeiten inklusiver Praxis in Kontexten mit Eltern verschiedener natio-ethno-kultureller Gruppen lösen könnten, berichtet Mecheril von einem beobachtbaren Spannungsverhältnis zwischen der „Maxime der Interaktion und Kommunikation und derer irreversibler Fehler“ (hier im Sinne der Verletzung von Eltern, die gesellschaftlichen Minderheiten angehören).
Er legt hier die Expertise wiederum trotzdem in die Hände der anwesenden Praktiker, mit dem Verweis darauf, dass reflektierte, sensible Bemühungen derer vermutlich ferner auch seinem Wissensstand entsprechen würden.
Abschließend rät Paul Mecheril allen Teilnehmer*innen dazu, die Begriffe jeglicher Wende kontinuierlich immer und immer wieder zu wandeln, um die Bewegung zu erhalten. Konkret: Ein Migrationspädagoge, der diese Bezeichnung wohl selbst mehr und mehr ablehnt.
Um herausfinden und verfolgen zu können, wie sich die Bezeichnungen in der Migrationspädagogik wandeln werden, muss also auf seine nächste Publikation gewartet werden. Und allein dadurch ist der Zweck des Wandels doch schon erfüllt!
»Migration und Mehrsprachigkeit in der (frühen) Kindheit«
Vortrag von Frau Prof. Dr. Julie Argyro Panagiotopoulou am 18. 11. 2020
Bericht von Sabine Jurga, BA Pädagogik der Kindheit und Familienbildung
„Nationalstaatliche Sprachenpolitik in Bildungseinrichtungen der Migrationsgesellschaft Oder: Was ist ein monolinguales Sprachregime?“
Am 18.11.2020 füllt sich die Online-Veranstaltung des Forum Postmigrantische Perspektiven mit über 270 Teilnehmer*innen. Grund hierfür ist die bemerkenswerte Expertise von Frau Prof. Dr. Julie Argyro Panagiotopoulou, Professorin für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Bildung und Entwicklung in der frühen Kindheit an der Universität zu Köln und Sprecherin der universitätsinternen Forschungseinrichtung Soziale Ungleichheiten und Interkulturelle Bildung im Bereich Vielfalt und Chancengleichheit.
Zum Auftakt der Veranstaltung begrüßt Mercedes Pascual Iglesias, als Antirassismus- und Antidiskriminierungsbeauftragte der AWO Mittelrhein e.V. und als Mitveranstalterin des Forum Postmigrantische Perspektiven, Prof. Dr. Panagiotopoulou mit achtungsvollen und warmen Worten. »Migration und Mehrsprachigkeit in der (frühen) Kindheit«, mit dieser Thematik lädt Prof. Dr. Panagiotopoulou die Teilnehmer*innen dazu ein „die Stimmen der Migrationsgesellschaft hörbar zu machen, die gelebten Ungleichheiten bewusst zu machen und pädagogische Handlungsweisen zu reflektieren“.
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Sehr schnell zeigt Prof. Dr. Panagiotopoulou den Teilnehmer*innen exemplarisch auf, dass in allen deutschen Bildungsinstitutionen, vom Kindergarten bis hin zur Universität und auch darüber hinaus, ein monolinguales Sprachregime zu finden ist und zu welch einem Dilemma dies in der Sprachpraxis führt. Auch wenn wir uns als Teilnehmer*innen dieser Veranstaltung romantisiert etwas anderes wünschen und vorstellen, müssen wir uns den Widerstand mehrsprachiger Kinder im Kontext von Bildungseinrichtungen der Migrationsgesellschaft vor Augen führen und darüber diskutieren. Mit Blick auf die PISA- Studie können wir erkennen, wo die nationalstaatliche Sprachenpolitik ihren Ursprung nimmt. Seitens der Kultusministerkonferenz wird beispielweise eine flächendeckende »bildungssprachliche Förderung« im Elementarbereich empfohlen, die ausschließlich einen »frühkindlichen Deutsch-Spracherwerb« zur Vorbereitung auf die Schule vorsieht. So geschieht es, dass der Spracherwerb und Sprachgebrauch von mehrsprachigen Kindern zunächst explizit marginalisiert wird.
Durch die Darstellung ihrer Beobachtungen in Kitas und Grundschulen (in Protokollform), die nur erahnen lassen, wie wertschätzend und nah Prof. Dr. Panagiotopoulou und ihr Team ihre Forschungen betreiben, gelingt es, den Teilnehmer*innen aufzuzeigen, wie auch implizit Sprachstandards, Sprachregeln und Sprachgebote durchgesetzt werden und so die Idee der staatlichen Einsprachigkeit legitimiert wird. Mit Hilfe ihrer Forschungsergebnisse anhand von Beobachtungsprotokollen gelingt es Prof. Dr. Panagiotopoulou, Stimmen der Migrationsgesellschaft hörbar zu machen und die gelebten Ungleichheiten hervorzuheben und zu beleuchten.
Mit ihrer ersten dargestellten Beobachtung verweist Prof. Dr. Panagiotopoulou auf die Sprachverbote in der Praxis und somit auf die herrschende Asymmetrie der Sprachen. Diese bleibt natürlich nicht ohne Auswirkungen und mündet in Diskrimination und Exklusion der mehrsprachigen Migrationsgesellschaft. Bei all dem dürfen wir nicht vergessen, dass ein solches Sprachregime nicht nur allein Auswirkungen auf mehrsprachige Kinder und Familien hat, sondern auch auf monolinguale Kinder und Familien wirkt. An dieser Stelle liefert Prof. Dr. Panagiotopoulou einen unmittelbaren Anschluss an den Vortrag von Paul Mecheril »Ordnung-Macht-Bildung. Migrationspädagogische Sondierungen«, der in der vorigen Woche im Forum stattgefunden hatte.
In einer weiteren Beobachtung, die Prof. Dr. Panagiotopoulou darlegt, zeigt sie den Teilnehmern*innen auf, dass auch die sogenannte Herkunftsfrage zu einem Dilemma führt. Wir können erkennen, dass es dabei nicht um eine neutrale Frage zum Wohnort geht, sondern um die Konfrontation mit der Herkunft des*der Befragten. Wohlwissend, dass diese Frage nicht allen Kindern gestellt wird. Kinder der mehrsprachigen Migrationsgesellschaft verheimlichen auf Grund solcher Erfahrungen häufig ihre (vermeintliche) Herkunft bzw. die Mehrsprachigkeit ihrer Familie. Die ethno-biografische Studie von Maria J. Hammel liefert hierzu weitere Beobachtungen und Denkanstöße.
Anhand einer dritten Beobachtung verweist Prof. Dr. Panagiotopoulou auf das Sprachporträt. Diese Beobachtung stellt systematisch die negativen Erfahrungen und deren Auswirkungen dar, die das Kind in Bezug auf seine Mehrsprachigkeit gesammelt hat. Angelehnt an diese Beobachtung können wir die Auswirkung salopp folglich beschreiben: »Das Kind hat die Erfahrung(en) gesammelt, dass die Mehrheitssprache Anerkennung und Legitimation erfährt, jedoch die Mehrsprachigkeit nicht«.
Diese beispielhaften Beobachtungen lassen uns erahnen, was Kinder, die mehrsprachig aufwachsen, in Bildungseinrichtungen erleben. „Sie machen die Erfahrung, dass sie im Rahmen der Sprachförderung ausschließlich Deutsch sprechen oder schweigen sollen, dass ihr mehrsprachiges Repertoire für den Erwerb der deutschen Sprache irrelevant sei und in der Schule einsprachiges Handeln erwartet wird. Dabei ist vorstellbar, dass Kinder sich nicht als Kinder erleben, die durch die Mehrsprachigkeit eine weitere Fähigkeit mitbringen, sondern als solche, die ein Defizit aufholen und sich möglichst schnell anpassen sollten.“
All dies regt zum Nachdenken an und die Teilnehmer*innen erhalten in Kleingruppen die Möglichkeit, ihren Gedanken und Fragen im kollegialen Austausch nachzugehen. Dabei kommt die Frage auf, „wie das Bildungssystem reformiert werden kann, sodass Individualität und Heterogenität der Kinder und Familien anerkannt werden und das unabhängig von konstruierten Kategorien wie Migration, Behinderung, sozialer Herkunft und Geschlecht?“. Um die Bedingungen für mehrsprachige Kinder im Bildungswesen zu verbessern, sind nach Prof. Dr. Panagiotopoulou Reformschritte erforderlich. Aber auch WIR, als Pädagog*innen haben die Aufgabe, aufmerksam sein und uns zu fragen: „Werden alle Sprachen gleichwertig anerkannt und werden Sprachhierarchien vermieden?“. Dabei können und sollten wir uns, so appelliert Prof. Dr. Panagiotopoulou, in der Wahl pädagogischer Methoden inspirieren lassen. Inspirieren lassen von mehrsprachigen Eltern und Familien der Migrationsgesellschaft.
Sie handeln widerständig und erziehen bewusst mehrsprachig. Sie setzen die Sprachen und Strategien gezielt ein, denn „ist es nicht schön mehrere Sprachen zu können?“. In den Diskussionen der Teilnehmer*innen werden insbesondere auch Exklusionsmechanismen und der Umgang mit diesen thematisiert. Prof. Dr. Panagiotopoulou verweist darauf, dass alle Kinder im Rahmen der Sozialisation Exklusionserfahrungen erleben. Gehen wir jedoch davon aus, dass ein Kind erst in eine Gruppe integriert wird, wenn es die Mehrheitssprache spricht, dann geht es hier nicht um Exklusionserfahrungen im Rahmen der Sozialisation und es sind pädagogische Handlungsweisen gefordert, die strukturelle Exklusionsmechanismen vermindern.
Sogenannte Sprachförderprogramme werden ebenfalls zum Inhalt der Diskussion. Prof. Dr. Panagiotopoulous Expertise zu folge ist an dieser Stelle danach zu fragen, warum speziell dieses Kind an einem Sprachförderprogramm teilnehmen soll? Geht es alleine um die Förderung der Mehrheitssprache? Dann ist dies wohl weniger ratsam und Teil einer Diskrimination. Ist die Fördermaßnahme einer Stigmatisierung der Herkunft nahegelegt und der Grund für eine gesonderte Sprachförderung? Dann ist auch dies wenig ratsam. Sie verweist hier erneut darauf, dass pädagogische Fachkräfte sich von mehrsprachigen Familien der Migrationsgesellschaft inspirieren lassen können und sollen.
Die Veranstaltung neigt sich dem Ende zu und es lässt sich erkennen, wie gespannt die Teilnehmer*innen Prof. Dr. Panagiotopoulous Worten und ihrer Expertise folgen. Immer wieder ließ sich ein Moment der Stille kennzeichnen. Kein unangenehmer Moment, sondern ein Moment, der durch Prof. Dr. Panagiotopoulous Vortrag dazu einlädt, sich Gedanken zu machen und die Gegebenheiten zu reflektieren. Mit den Worten eines Teilnehmers wird genau dies nochmals zum Abschluss hervorgehoben und wir verlassen den Vortrag mit folgendem Gedanken:
Deutschland war bis Mitte des 19. Jahrhunderts mehrsprachig. Heute erinnert sich niemand daran. Monolingualität gilt deshalb als der ‘Normalfall‘. Deshalb sind unsere mehrsprachigen Kinder an mancher Stelle eher ein ’Störfall‘.
Dezember 2020