Das Praxisforschungsprojekt "momente – Politische Bildung und Offene Kinder- und Jugendarbeit in NRW
Im Praxisforschungsprojekt ‚momente‘ geht es um eine systematische Analyse des politischen Moments in der alltäglichen Arbeit der Offenen Kinder- und Jugendarbeit und den Bedingungen, die dieses Auftauchen möglich machen. Ziel ist es, mithilfe eines ethnografischen Forschungsansatzes das ‘Moment des Politischen‘ in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zu identifizieren. Hierfür wird der Alltag von Jugendeinrichtungen über einen längeren Zeitraum untersucht. Auf dieser empirischen Grundlage wird in den kommenden drei Jahren gemeinsam mit Fachkräften der Offenen Kinder- und Jugendarbeit und der politischen Bildung konzeptionell an der Entwicklung einer alltagsbezogenen politischen Bildung gearbeitet, die die spezifischen Themen, Ziele und Settings der Offenen Kinder- und Jugendarbeit berücksichtigt. Die Praxisentwicklung wird durch den Aufbau eines Netzwerks “politische Bildung und OKJA“ und durch verschiedene Arbeitsgruppen, Workshops und Fachforen realisiert. Ein zentrales Thema ist die kooperative Erarbeitung einer Handreichung politischer Bildung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Das Netzwerk dient dem Wissenstransfer zwischen Vertreter*innen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, der politischen Bildung, fachpolitischer Interessensvertretungen und der Wissenschaft.
Auf der Auftaktveranstaltung des Projekts wurde in einer kurzen Beschreibung die Grundarchitektur und einige erste Annahmen vorgestellt. Anschließend warf das momente-Team einen heuristischen Blick auf zentrale Begriffe und Themen. Hierfür dienten vier zentrale Aspekte und Fragestellungen als Bezugspunkte:
1. Wo findet Offene Kinder- und Jugendarbeit statt?
Die Offene Kinder- und Jugendarbeit ist heute unentbehrlicher Bestandteil der sozialen Infrastruktur von Städten und Gemeinden. Die Betonung der Notwendigkeit einer räumlich konzipierten Vernetzung, Verzahnung oder Zusammenarbeit zwischen kindheits- und jugendbezogenen Einrichtungen und Angeboten gehört zum aktuellen Standardrepertoire kinder- und jugendpädagogischer Praxisentwicklung und Theoriebildung. Ihr programmatisch-finaler Referenzpunkt fokussiert gute, respektive erfolgreiche Bildung, Lebensbewältigung sowie die Teilhabefähigkeit des Heranwachsenden. So bilden Angebote der Offenen Kinder- und Jugendarbeit räumliche Ensembles z.B. Bildungslandschaften, die sich auch architektonisch verdichten können. Diese architektonische Verdichtung ist bspw. hier in Köln an der sogenannten ‚Bildungslandschaft Altstadt-Nord‘ begeh- und erfahrbar, die einen – so heißt es in der Selbstbeschreibung – „Bildungsverbund von acht Bildungs- und Freizeiteinrichtungen in städtischer und freier Trägerschaft im Kölner Stadtteil Altstadt-Nord“ verdichtet. Diese raum- und feldtheoretische Perspektive auf Offene Kinder- und Jugendarbeit bildet damit für das Forschungsprojekt einen wichtigen Zugriff auf das Feld.
2. Mit wem findet Offene Kinder- und Jugendarbeit statt?
Die Angebote und Formate der Offenen Kinder- und Jugendarbeit richten sich grundsätzlich an junge Menschen bis zum 27. Lebensjahr und bieten Räume zur selbstbestimmten Freizeitgestaltung an. Marc Schulz hat in seinem Vortrag auf zentrale Schwachstellen, in Bezug auf eine fehlende wissenschaftliche Reflexion über die beiden Strukturkategorien Kindheit und Jugend, hingewiesen und diskutiert. Das enorme Ungleichgewicht in der Theorie der Kinder- und Jugendarbeit zeigt sich darin, dass sowohl konzeptionell als auch theoretisch intensiv auf das Jugendalter abgestellt wird und das Kindesalter zweitrangig behandelt wird. Dies lässt sich bereits daran ablesen, dass in Handbüchern und Standardwerken der Offenen Kinder- und Jugendarbeit kaum eine Altersdifferenzierung stattfindet – Beiträge, die unmittelbar und mittelbar auf Phänomene der Jugendphase referieren, sind quantitativ deutlich überrepräsentiert im Vergleich zu denen, die sich explizit auf die Kindheitsphase beziehen, und wenn sie altersentdifferenziert argumentieren, dann werden Kinder zumeist konzeptionell ‚irgendwie mitgedacht‘.
Damit wird Kindheit praktisch als Übergangsstadium zur Jugend verhandelt – trotz der erheblichen Einwände aus den kindheitstheoretischen Debatten, Kindheit als eigenständige Lebensphase und -weise anzuerkennen. Folglich lässt sich pointiert sagen: Offene Kinder- und Jugendarbeit ist stark entwicklungs- und sozialisationstheoretisch ausgerichtet und dabei auch noch kinder- und kindheitsblind.
Das momente-Projekt setzt an diesen kindheits- und jugendtheoretischen Lücken empirisch an, indem es Kindheit und Jugend auch als soziale Strukturkategorie in ihrer Konvergenz und Divergenz betrachtet. Konkret betrachtet das Projekt Offene Kinder- und Jugendarbeit als Geschehen generationaler Ordnung, die eine Praxis der altersgradierenden Binnendifferenzierungen (Klientifizierung) betreibt.
Welche Stellung wird Kindern und Jugendlichen in der Gesellschaft bspw. allein rechtlich zugewiesen und wie werden diese Strukturkategorien in der alltäglichen Lebensführung von Kindern und Jugendlichen – also ihrer Lebensweise – wirksam? Und wie ist die Institution Offene Kinder- und Jugendarbeit in diesem Prozess des öffentlich-institutionellen Aufwachsens beteiligt? Ferner: Was geschieht, wenn wiederum Kinder und Jugendliche stärker als Ko-Produzierende des institutionellen Alltags analytisch in den Blick geraten?
3. In welcher Form findet Offene Kinder- und Jugendarbeit statt?
Bezugnehmend auf die im ersten Punkt diskutierte raum- und feldtheoretische Verortung des Projekts wurde bereits über die Gravitationskräfte von Feldern auf die Sozialformen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit Bezug genommen. Im zweiten Punkt wird auf die Formen der sozialen Positionierung verwiesen. Damit sind einige Elemente aufgerufen, die die Binnenstruktur einer Praxis der Offenen Kinder- und Jugendarbeit beschreiben. Bereits Peter Cloos u.a. haben in ihrer Studie vorgelegt, welche Strukturierungen performativ der Alltag der Offenen Kinder- und Jugendarbeit maßgeblich hervorbringt und sich darin von anderen Feldern wie bspw. der Schule unterscheidet. Hier handelt es sich v.a. um weniger stark strukturierte Formen des sozialen Miteinanders. Burkhard Müller und Marc Schulz (Müller/ Schmidt/ Schulz 2008) sprachen in diesem Zusammenhang dichotomisch von ‚bildungsförderlichen Interventionen‘, also gezielten, pädagogisch reflektierten und begründeten Angeboten, die Bildungsprozesse unterstützen sollen und ‚bildungsförderlichen Antworten‘, also angemessenes Handeln und Kommunizieren, welches stärker wahrnimmt, welche Themen Kinder und Jugendliche derzeit beschäftigen. Ein weiteres Element dieser Binnenstruktur ist das ‚Moment‘: Die aktuelle Arbeitsfassung dieses Elements ist, dass wir ‚das Moment‘ als ein dynamisches, von den konkreten Bedingungen abhängiges Ereignis verstehen. Es lässt sich in einer wiederkehrenden Regelmäßigkeit in spezifischen Räumen beobachten. In einem praxistheoretischen Sinne müssen diese Momente einen Halt finden – in einem Zusammenspiel von Dingen, Räumen und teilnehmenden Personen. Das Moment ist also kein eindimensionales oder einmaliges Ereignis. Momente sind zwar im Sinne von ‚bildungsförderlichen Interventionen‘ explizit im Sinne von Didaktiken oder Methoden herstellbar, die jedoch kaum in der Binnenlogik der Offenen Kinder- und Jugendarbeit verankert sind. Ihre Logik – oder: ihre Gravitationskräfte – liegen mehrheitlich in der Form flüchtiger, emergenter und dynamischer Situationen, aus denen heraus sich inhaltlich etwas entwickelt, welches nicht explizit herstellbar, sondern auf das freie Zusammenspiel selbst angewiesen ist. Wir können dies unter den Stichwörtern Alltäglichkeit, Beiläufigkeit, der Gelegenheiten oder das Informelle fassen. Mit dem Begriff des Moments als kleinste zu beobachtende Einheit verkoppeln wir empirisch eine Vorstellung des Politischen in analytischer Differenz zum Pädagogischen.
4. Offene Kinder- und Jugendarbeit als Raum politischer Bildung
Ein weiterer, thematisch analytischer Begriff innerhalb des Projektes ist der Begriff des Politischen und der Begriff der Politik. Das Politische kann als eine Form kollektiven Handelns verstanden werden, welches sich von der Ausübung der (institutionellen) Politik unterscheidet. Das Politische ist demnach dort, wo die Menschen es erfahren. Nach Schröder meint das Politische “die Art und Weise(..) wie wir gesellschaftlich miteinander verbunden sind - im Gemeinwesen. Politik entsteht in dieser Lesart zwischen den Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen (…) und etabliert sich als Bezug." (Schröder 2011, S. 174). Politische Bildung bezieht sich in seiner Ausgestaltung auf diese Themen, bereitet und erarbeitet sich diese in einer didaktisierten Form mit den jeweiligen Adressat*innen und hat hierfür ein breites Methodenrepertoires zur Verfügung. Aus kritischer Perspektive kann an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass politische Bildung als Bildungspraxis formaler und außerschulischer Institutionen, (augenscheinlich) auf einer von außen erfolgten Festlegung von zu erlernenden Kulturstandards oder Sozialkompetenzen basiert (vgl. Thimmel 2019).
In unserem Verständnis stellt sich der politische Anspruch non-formaler Bildung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit wie folgt dar: Der §11 (SGB VIII) ist mit den Zielen von Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Verantwortung/gesellschaftspolitischer Bildung derart zu verstehen, dass die Offene Kinder- und Jugendarbeit Kinder und Jugendliche dazu befähigen soll, sich in die Gesellschaft einzubringen und durch Kritik an ihrer Veränderung mitzuwirken. Für unseren Forschungsprozess sind demnach folgende Fragen leitend: Woraus entstehen diese Momente des Politischen im Alltäglichen der OKJA? Wie unterscheiden sie sich von anderen Momenten im jugendarbeiterischen Setting? Welche Rahmenbedingungen und Kontexte lassen diese Momente in einer gewissen Regelmäßigkeit entstehen? Wie wird im konkreten Alltag der OKJA mit ihnen umgegangen? Wie bringen Fachkräfte Momente politischer Bildung hervor oder verhindern sie?
Zur Person
Asmae Harrach-Lasfaghi und Maurice Kusber sind wissenschaftliche Mitarbeiter*innen im Projekt "momente" des Forschungsschwerpunkts Nonformale Bildung der Technischen Hochschule Köln. Marc Schulz ist Professor für Kindheits- und Familiensoziologie und Leiter des Forschungsschwerpunkts "Bildungsräume in Kindheit und Familie" an der Technischen Hochschule Köln.