Ein Trojanisches Pferd für die Meinungsvielfalt

Prof. Dr. Rolf Schwartmann_2 (Bild: Bild:Thilo Schmülgen/TH Köln)

Das Bundesverfassungsgericht hat die Meinungsfreiheit klug und weitsichtig als die Grundlage jeder Freiheit bezeichnet. Meinungsfreiheit setzt Meinungsvielfalt voraus. Denn nur wer sich frei zwischen vielen unabhängigen Stimmen entscheiden kann, der kann sich frei eine Meinung bilden. Die Mechanismen sozialer Netzwerke gefährden diesen Grundpfeiler des Grundgesetzes und der Demokratie.

01.02.2021

Prof. Dr. Rolf Schwartmann, Leiter der Forschungsstelle für Medienrecht an der TH Köln; Vorsitzender der Gesellschaft für Datenschutz und Datensicherheit (GDD) e.V.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Meinungsfreiheit klug und weitsichtig als die Grundlage jeder Freiheit bezeichnet. Meinungsfreiheit setzt Meinungsvielfalt voraus. Denn nur wer sich frei zwischen vielen unabhängigen Stimmen entscheiden kann, der kann sich frei eine Meinung bilden. Die Summe dieser Meinungen mündet in Wahlentscheidungen. So konstituiert und erneuert sich die repräsentative Demokratie des Grundgesetzes. Die Mechanismen sozialer Netzwerke gefährden diesen Grundpfeiler der Demokratie.

Das in Art. 5 Grundgesetz angelegte Wechselspiel von Meinungsäußerungsfreiheit auf der einen Seite und der Freiheit der Bürger sich aus allgemein zugänglichen Quellen frei und ungehindert informieren zu können auf der anderen Seite, macht nach der Konzeption des Grundgesetzes Meinungsvielfalt möglich. Die Vielfalt der Meinungen entsteht in vielen Köpfen. In Europa und namentlich in Deutschland existiert eine breite regionale Vielfalt, institutionalisiert in Presse und Rundfunk. Diese Vielfalt der Meinungen stabilisiert unsere Demokratie und soll sie vor Demokratiegefahren schützen, die das Pressesterben in den USA uns vor Augen führt.

Die Sicherung der Meinungsvielfalt ist ein Verfassungsgebot

Der Staat hat die Vielfalt der Meinungen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aktiv zu schützen. In der Verfassungswirklichkeit unter der Ägide Sozialer Netzwerke und Suchmaschinen ist der freie Meinungsbildungsprozess gestört. Was in Suchanfragen an oberster Stelle angezeigt wird und was in die Newsfeeds sozialer Netzwerke mit Priorität einfließt, ist kein Resultat eines freien Prozesses. Es basiert auf der Auswertung von Nutzerinteressen, die die Anbieter der Netzwerke über den permanenten Rückkanal zu den Menschen hinter vielen Endgeräten haben. Er ist technisch notwendigerweise durch die Programmierer der Algorithmen beeinflusst, die unter der Oberaufsicht der Chefs der Datendienste allen das Wort geben, die Nutzern etwas verkaufen wollen. Dass sie zugleich eigene oder bezahlte politische Interessen verfolgen, ist nicht erwiesen. Die Gefahr, dass dies geschieht oder geschehen kann, ist aber hoch. Zumindest schaffen die Herrscher der Algorithmen Fakten, die – denkt man an die Sperre von Politikern – die Kommunikation auf der Welt verändern.1

Facebook räumt politische Einflussnahme freimütig ein

Das Netz gibt jedem Einzelnen über Soziale Medien eine Stimme. Allein hat sie keine Macht. Erst über das Bündeln und Präsentieren – sprich das Ventilieren und Steuern – der Stimmen durch Medienintermediäre, die kein Gesamtangebot im Sinn haben (dürfen), entsteht eine kritische und brisante Masse. Je nach dem, was die Programmierer des Algorithmus entscheiden und welche Öffentlichkeit sich in den von ihnen schon aus technischen Gründen beherrschten Kommunikationsräumen findet und erreicht werden soll, werden einzelne Aussagen von Schneeflocken zu Lawinen.

Die Gefahren für die Meinungsvielfalt realisieren sich im Großen und im Kleinen

Die Gefahren werden nach dem Sturm auf das Kapitol, das die USA in gewisser Weise in die Nähe eines gescheiterten Staates rücken, breit diskutiert. Aber es gibt auch subtile Gefahren für die Vielfalt, die von den Sozialen Netzwerken ausgehen. Junge Menschen sind mit Newsfeeds aufgewachsen und auch ältere rezipieren Nachricht in deren Takt. Es ist mühsam und nicht mehr zeitgemäß, Informationen unmittelbar aus den Quellen der weltweit immer notleidender werdenden zahlreichen Presseerzeugnissen zu beziehen. Diese Mechanismen

dürften auch vor (jungen) Journalisten nicht Halt machen. Die Meinungstrends bei Twitter, Facebook und Google & Co sind schon aus technischen Gründen per Programmierung kuratierte Meinungstrends. Da sie den Mainstream vermeintlich objektiv spiegeln, liegt es nah, die Vorauswahl der Algorithmen zu übernehmen. Dass es sich dabei nicht um ein von den Anbietern geschickt programmiertes Trojanisches Pferd in der Meinungsvielfalt handelt, ist weder belegt noch widerlegt. Realistisch dürfte aber die Beobachtung sein, dass Twitter & Co durch ihre Bündelungsfunktion Themen setzen. Die Einflussnahme räumt jedenfalls Facebook freimütig ein. Weil sie dem Chef nicht geheuer ist, will man bei der Empfehlung von „Gruppen, die dich interessieren könnten“, also bei Empfehlung von politischen Diskussionsforen zurückhaltend sein. Im September hatte Facebook bekannt gegeben, dass es binnen einem Jahr mehr als eine Million Gruppen wegen Verstößen gegen Regeln des Netzwerks entfernt hatte. Zuckerberg sagte nun, es gebe darüber hinaus viele Gruppen, bei denen Facebook seine Nutzer möglicherweise nicht dazu ermutigen wolle, ihnen beizutreten, heißt es bei Spiegel Online.2 Führt man sich vor Augen, dass Google Australien offen mit dem Abzug seines Suchdienstes für den Fall droht, dass die Nutzung von Medieninhalten vergütet werden muss, zeigt sich, wozu Meinungsgiganten bereit und in der Lage sind. Die Staaten dürfen sich davon nicht unter Druck setzen lassen und können eine Welt ohne Google-Suche aushalten. Was sie nicht akzeptieren dürfen, ist eine feindliche Übernahme der Medien- und Meinungsvielfalt.

Meinungsfreiheit vor Medienintermediären schützen

Das darf nicht passieren, denn: „Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt. Es ist im gewissen Sinne die Grundlage jeder Freiheit überhaupt“.3 Dieses Zitat aus dem Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgericht vom 15.1.1958 ziert die Medaille von Heribert Calleen 4, die jährlich als Preis des Beirats der Kölner Forschungsstelle für herausragende Leistungen im Studiengang „Medienrecht und Medienwirtschaft“ der Kölner Forschungsstelle für Medienrecht vergeben wird. Es ist Mahnung und Auftrag für jeden, damit die Meinungsfreiheit auch in Zeiten von Medienintermediären den Schutz des Grundgesetzes behält.

1 https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/digitec/freie-meinung-im-internet-soziale-medien-und-meinungsfreiheit-17151030.html

2 https://www.spiegel.de/consent-a-?targetUrl=https%3A%2F%2Fwww.spiegel.de%2Fnetzwelt%2Fnetzpolitik%2Ffacebook-netzwerk-will-nutzern-keine-politischen-gruppen-mehr-empfehlen-a-7bdf6e9e-4690-48ff-a336-dc2df60d6f6b

3 https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/1958/01/rs19580115_1bvr040051.html

4 https://de.wikipedia.org/wiki/Heribert_Calleen

Februar 2021

M
M