Doppelregulierung im Jugendschutzrecht

TH_20220912_medienrecht_19min-840x430.jpg (Bild: TH-Köln)

Seit 2003 hat sich die Medienlandschaft grundlegend geändert, und Kinder und Jugendliche können über das Internet und unterschiedliche Endgeräte einfacher denn je auf jugendgefährdende Inhalte zugreifen. Entsprechend ist die Bedeutung des Jugendschutzrechts gewachsen.

04.03.2021

Morgen wird der Deutsche Bundestag nach fast 20 Jahren eine Reform des Jugendschutzgesetzes[1] beschließen. Seit 2003 hat sich die Medienlandschaft grundlegend geändert, und Kinder und Jugendliche können über das Internet und unterschiedliche Endgeräte einfacher denn je auf jugendgefährdende Inhalte zugreifen.[2] Entsprechend ist die Bedeutung des Jugendschutzrechts gewachsen, und die Forschungsstelle hat daher auch das Jugendschutzrecht in den Mittelpunkt der Eröffnungsveranstaltung[3] des Masterstudiengangs Medienrecht und Medienwirtschaft am 21. Dezember 2020 gerückt.

So wichtig dieses Thema ist, umso enttäuschender ist nun die Reform. Statt des angekündigten großen Wurfs, der für einen konvergenten, modernen und international anschlussfähigen Jugendschutz dringend nötig ist, verheddert sich der Gesetzentwurf im Dickicht der Bund-Länder-Kompetenzen und schafft mit einer neuen Bundesbehörde nur noch mehr Zuständigkeitswirrwarr. Bestenfalls hilft das Kindern und Eltern nicht weiter. Problematisch sind aber die am letzten Wochenende unter hohem Zeitdruck unter Formulierungshilfe des Ministeriums und ohne Einbeziehung von Eltern, Kindern oder Anbietern eingefügten Ergänzungen.

So sieht die Beschlussempfehlung[4] des Bundestagsausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in § 10b Abs. 2 und 3 JuSchG vor, dass künftig bei der Vergabe von Alterskennzeichen für Filme und Computerspiele Risiken für die persönliche Integrität von Kindern und Jugendlichen, die im Rahmen der Nutzung des Mediums auftreten können, angemessen zu berücksichtigen sind. Regelbeispiele werden nun nicht mehr nur in der Gesetzesbegründung erwähnt, sondern explizit in § 10b Abs. 3 Satz 2 JuSchG aufgezählt. Neben Risiken durch Kommunikations- und Kontaktfunktionen (Chats) werden insbesondere „Kauffunktionen“, die Weitergabe von Daten und werbende Verweise auf andere Medien (Trailer) genannt. Sofern Anbieter diese Risiken nicht mit so genannten Deskriptoren kennzeichnen, kann eine Gesamtbeurteilung bei der Alterskennzeichnung dazu führen, dass unabhängig vom Inhalt eine höhere Altersfreigabe empfohlen wird, so dass Kinder und Jugendliche auch bei ungefährlichen Inhalten nicht mehr auf diese Angebote zugreifen können. Kurzum: Kinder und Jugendliche sollen Angebote mit Interaktionsrisiken und ohne Warnhinweis nicht mehr nutzen dürfen. Damit entwickelt sich das Jugendschutzrecht zu einem Sonder-Verbraucherschutzrecht, das zu Doppelregulierungen führt.

Mit „Kauffunktionen“ sind wohl vor allem Mikrotransaktionen in Computerspielen gemeint. Spieler können sich meist gegen geringe Beträge besondere Ausrüstung (Skins) oder Reittiere (Mounts) oder auch besondere Spielcharaktere kaufen, die meist eher schmückend sind und nicht für die Erreichung des Spielziels erforderlich sind. Gefährdet ist hier also nicht die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, sondern lediglich deren Geldbeutel oder der der Eltern. Dafür gibt es aber im BGB schon seit mehr als 120 Jahren einen bewährten Schutzmechanismus – den Taschengeldparagrafen. Sofern also ein Kind ohne Erlaubnis der Eltern mehr als etwa 10 oder 20 Euro verspielt, muss das Geld zurückerstattet werden. Damit stellt sich also die Frage, ob über die AGB hinaus noch ein zusätzlicher Hinweis auf diese „Gefahr“ erforderlich ist. Noch dazu wird durch technische Schutzmaßnahmen den Kindern sogar die Möglichkeit genommen, ihr Taschengeld so auszugeben, wie sie es möchten. Die Kinder werden faktisch in ihrer bislang rechtlich abgesicherten Entscheidungsfreiheit beschränkt, ob sie sich von ihrem Taschengeld Süßigkeiten, eine Kinderzeitschrift oder einen besonderen Skin in ihrem Lieblingscomputerspiel kaufen wollen.

Mit der datenschutzrechtlich ungewöhnlich formulierten „Weitergabe von Bestands- und Nutzungsdaten ohne Einwilligung an Dritte“ soll wohl das Risiko von Profiling und Tracking adressiert werden. Auch hier handelt es sich um eine Doppelregulierung, denn die DS-GVO regelt bereits die Verarbeitung von personenbezogenen Daten und sieht sowohl eine umfassende Datenschutzerklärung als auch besondere Vorgaben für die Einwilligung Minderjähriger vor (Art. 8 DS-GVO). Für Cookies hat zuletzt der EuGH entschieden[5], dass für so genannte funktionale Cookies keine Einwilligung erforderlich ist. Damit ist die Regelung im JuSchG nicht nur doppelregulierend, sondern sogar konträr zur DS-GVO. Im Übrigen gibt es wohl bei allen Online-Angeboten schon allein aus Sicherheitsgründen oder für Bezahldienstleister funktionale Cookies. Dies bedeutet eine faktische Hinweispflicht für alle Angebote – und seien sie noch so datenfreundlich. Damit wird jeder Hinweis in der Praxis wertlos, weil er keine Entscheidungshilfe darstellen kann.

Das gänzlich neu hinzugekommene Risiko nicht altersgerechter Kaufappelle[6] insbesondere durch werbende Verweise auf andere Medien zielt laut Begründung auf „Werbevorspanne wie Trailer“ ab, wobei der beworbene Film oder das Spiel eine höhere Alterskennzeichnung hat als das Spiel oder der Film, in dessen Rahmen der Trailer eingebunden ist. Dies soll auch für Kinovorführungen gelten. Diese vorher im Gesetzgebungsvorhaben nicht diskutierte Ergänzung kann dazu führen, dass bei einem Film wie beispielsweise einer Dokumentation oder einer Romanze, welche sich eindeutig an Erwachsene richtet, aber nicht entwicklungsbeeinträchtigend ist, keine Vorschau auf einen Blockbuster mit der Altersfreigabe 12 geschaltet werden kann, auch wenn die Vorschau selbst sogar nicht entwicklungsbeeinträchtigend ist. Abgesehen von der Sinnhaftigkeit findet auch hier eine Doppelregulierung statt, weil Werbung grundsätzlich vor allem Im UWG bzw. Medienstaatsvertrag[7] reguliert wird und sich mit den verbotenen Kaufappellen abseits der zugrundeliegenden EU-Richtlinien zu unlauteren Geschäftspraktiken und zu Audiovisuellen Mediendiensten hier eine Sonder-Werberegulierung entwickelt, die nur schwer mit dem angestrebten Binnenmarkt vereinbar ist.

Neben diesen drei offensichtlichen Beispielen von Doppelregulierung sind die Folgen einer Berücksichtigung dieser so genannten Interaktionsrisiken auch mit Blick auf die aktuellen Debatten zum Overblocking ein absoluter Sonderweg. So wird gerade im Urheberrecht diskutiert, wie Uploadfilter möglichst ausgeschlossen werden und das Löschen und Sperren von zulässigen Inhalten verhindert werden kann – dazu mehr in meinem Blogbeitrag vor einem Monat.[8] Und auch beim Netzwerkdurchsetzungsgesetz wurde nach Wegen gesucht, wie Hasskriminalität bekämpft werden kann, ohne die Meinungsfreiheit unverhältnismäßig einzuschränken. In beiden Fällen wird oft genug staatliche Zensur behauptet, auch wenn es hier um klar verbotene Inhalte geht. Im neuen Jugendschutzgesetz wurden all diese Bedenken bislang nicht berücksichtigt – zu Lasten von Kindern und Jugendlichen, für die das Grundrecht auf Informationsfreiheit natürlich auch gilt. Das Familienministerium fordert einerseits die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz[9], bescheidet aber gleichzeitig durch die hier aufgezeigten pauschalen und teils untauglichen Verbote deren fundamentalen Grundrechte. Bislang galt immer, dass der Staat über den Jugendschutz lediglich bewertet, welche Inhalte entwicklungsbeeinträchtigend sind. Mit den Regelungen führt die Einbeziehung von Interaktionsrisiken in die Alterskennzeichen aber zu einer Vermischung von hilfreichen Bewertungen und staatlichen Werbeverboten und dem Verbot von Geschäftsmodellen, die in einer Interessensabwägung mit der aktiven und passiven Informationsfreiheit sowie teilweise mit der Kunstfreiheit in vielen Fällen unverhältnismäßig sein werden und damit zu massenhaftem Overblocking führen.

All dies zeigt, dass sich die Familienpolitiker für eine Analyse des mittlerweile hochkomplexen deutschen Jugendschutzrechts und erst recht mit der Einfügung dieser kurzfristigen Nachbesserungen mehr Zeit hätten nehmen sollen. Die Formulierungshilfen sind eben nicht in einem Verfassungsministerium geschrieben worden, in dem tagtäglich Grundrechte gegeneinander abwogen werden, sondern in einem Ministerium, das vor allem den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern soll und dazu Initiativen startet, kommuniziert und vor allem Geld ausgibt. Ganz offensichtlich sind verbraucherschutzrechtliche Regelungen zur Wahrung der Einheit der Rechtsordnung jedenfalls besser im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz aufgehoben, datenschutzrechtliche im federführenden Bundesministerium des Innern und der konvergente und zukunftsfähige Jugendschutz wohl besser bei den Staatskanzleien der Länder.

[1] Gesetzentwurf: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/249/1924909.pdf; eine konsolidierte Fassung ohne die Änderungen im parlamentarischen Verfahren findet sich hier: https://spielerecht.de/wp-content/uploads/RefE-JuSchG-Stand-10-Feb-2020-konsolidierte-Fassung.pdf.

[2] Ausführlich zu den aktuellen jugendschutzrechtlichen Entwicklungen und rechtlichen Herausforderungen die Beilage zur MMR 8/2020, die von der Forschungsstelle mitherausgegeben wird. Einführend Hentsch/v. Petersdorff, Gesetzlicher Jugendschutz in der Games-Branche, MMR-Beilage 8/2020, 3-8.

[3] Tagungsbericht und Veranstaltungsprogramm: https://www.medienrecht.th-koeln.de/2020/12/03/medienrecht-trifft-medienwirtschaft-digital/.

[4] Beschlussempfehlung mit Änderungen: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/272/1927289.pdf.

[5] EuGH in Sachen Planet49: http://curia.europa.eu/juris/liste.jsf?language=de&num=C-673/17.

[6] Zu Kaufappellen nach § 6 JMStV vgl. auch Schwartmann/Ohr, in: Bornemann/Erdemir, JMStV, § 6.

[7] Der neue Medienstaatsvertrag ersetzt seit dem 7. November 2020 den Rundfunkstaatsvertrag: https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/MStV/true.

[8] Hierzu auch mein Blog-Beitrag vor einem Monat: https://www.medienrecht.th-koeln.de/2021/02/01/blog-der-forschungsstelle/.

[9] Initiative des BMFSFJ: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/kinder-und-jugend/kinderrechte?view=.

März 2021


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